Der 26. Stock
in Hand. Die größere hatte noch zwei Striche am Kopf
entlang, die kindliche Darstellung von langen Haaren, eine Frau also. Um die beiden Figuren herum hatte der Zeichner eine
Unzahl von schwarzen Spiralen gezogen, aber das war noch nicht das Seltsamste. Der freie Arm des Kindes lief in einem kleinen
Kreis aus, einer Hand, die das rechte Bein der Frau berührte, etwa auf Höhe einer Hosentasche, die nicht wiedergegeben war.
Teo nahm das Bild in die Hand, und die Kamera vollzog erneut einen Schwenk. Er ging jetzt den umgekehrten Weg zurück in den
großen Raum. Isabel fragte sich, wie ihrem Bruder dabei zumute gewesen sein mochte. Sie war nicht da gewesen, um ihm zu helfen.
Nichts von dem, was die Aufnahme zeigte, ließ sich jetzt noch verhindern. Teo kehrte in den großen Raum zurück und drehte
sich unvermittelt zu der weißen Wand um, wo in diesem Augenblick etwas Form annahm – eine breite Metallfläche. Isabel erkannte
die Aufzugtüren, bevor die Kamera wieder herumschwenkte und verschiedene Ansichten des Teppichbodens zeigte, der mit Papieren
und Resten von Möbelstücken bedeckt war. Teos Füße stolperten hastig vorwärts. Er hatte angefangen zu rennen.
»Isabel.«
Was dann folgte, war auf den Bildern nur unklar zu erkennen. Die Decke, die Möbel, Teo selbst, wie er davonlief, wieder der
Boden und die Rückseite des Aktenregals. Da war ihr Bruder, hinter das Regal geduckt. Die Kamera filmte ihn aus ein paar Metern
Entfernung. Er war in die Hocke gegangen; die Hosenbeine waren blutverschmiert. Er sah in die Kamera. Sie musste ihm aus denHänden gerutscht und unter irgendeinem umgefallenen Stuhl zu liegen gekommen sein. Teo spähte hinter dem Aktenregal hervor.
Er konnte die Kamera, diesen stummen Zeugen der Ereignisse, nicht zurückholen. Isabel spulte vor. Sie wollte ihren Bruder
nicht leiden sehen wie eine Maus in der Falle.
»Isabel, wir müssen weg.«
Eine Hand legte sich auf ihre Schulter, aber sie reagierte nicht. Sie vermutete, dass die Bilder ihr enthüllen würden, was
aus ihrem Bruder geworden war. Eine weitere Person kam ins Bild, mit dem Rücken zur Kamera. Isabel hielt den Schnellvorlauf
an. Sie wusste sofort, wer der Neuankömmling war. Hugo hielt ihrem Bruder mit einem Lächeln die Hand hin, und der zögerte
kurz und ergriff sie dann. Das hätte er nicht tun sollen. Aber was blieb ihm anderes übrig? Er hatte Angst. Er war verschreckt
und hatte jemanden gefunden, der ihm allem Anschein nach helfen wollte. Hugo nahm ihm die Zeichnung ab, warf einen Blick darauf,
fragte Teo etwas und warf sie dann auf den Boden.
»Hörst du mich?«
Dann verschwanden die beiden Hand in Hand aus dem Bild, Richtung Aufzug.
»Isabel, schau mich an!« Vera riss ihr die Kamera aus der Hand. Sie stand vor ihr, das Gesicht voller Sorgen, aber ihr Blick
war hart und klar. Das war die alte Vera, nicht die wehrlose Frau, die sie vorhin wie einen Sack Mehl zur Treppe hatte schleppen
müssen.
»Der Turm steht in Flammen! Wenn du nicht abhaust, bist du tot!« Isabel reagierte, als wäre sie gerade aus einem Traum erwacht.
Auf einmal bemerkte sie den unangenehmen, durchdringenden Gestank nach verbranntem Plastik. Vera sprach in eindringlichem
Ton weiter. »Zac bringt dich hier raus.«
»Und was ist mit dir?«, fragte Isabel verstört.
»Ich muss bleiben. Ich gehe, wenn ich erledigt habe, wofür ich gekommen bin.«
»Ich gehe auch nicht.« Zac und Vera versuchten zu widersprechen, doch Isabel ließ sie nicht zu Wort kommen. Sie zeigte aufdie Kamera in Veras Händen. »Teo ist hier drin, ich bin ganz sicher. Hugo hat ihn mitgenommen.«
Vera sah sie nur an, während Zac versuchte, sie umzustimmen. Wenn sie hierblieb, würde sie sterben. Er packte sie am Arm und
wollte sie mit Gewalt mitzerren.
»Nein!«, sagte Vera gebieterisch. Sie gab Isabel die Kamera zurück. »Isabel hat ein Recht darauf, zu bleiben, wenn sie möchte.«
Zac seufzte und blickte zur Decke. Er konnte die beiden Frauen nicht verstehen.
»Das Feuer wird gleich da sein. Wenn wir jetzt nicht gehen …«
»Aber wenn wir ohne Teo gehen«, fiel ihm Vera ins Wort, »dann wird er es wahrscheinlich nie schaffen. Du hast uns gerettet,
aber jetzt ist keine Zeit mehr für Diskussionen. Wir sehen uns draußen.«
Damit machte sie sich auf den Weg. Sie beugte sich nicht einmal vor, um zu sehen, bis wo die Flammen schon gekommen waren.
Eine weitere Explosion ertönte, und der Boden bebte unter ihren Füßen.
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