Der 26. Stock
Vielleicht würde sie später erfahren, was aus der Waffe geworden war.
»Beeilt euch!«
Im großen Raum waren sämtliche Fenster zersprungen, und die Flammen schlugen ins Freie. Sie liefen dicht hintereinander her.
Vera versuchte, den Atem anzuhalten, obwohl ihr klar war, dass sie früher oder später etwas von der vergifteten Luft in ihre
Lungen lassen musste. Isabel vor ihr taumelte, und für eine Sekunde dachte Vera, sie würde fallen, aber dann fing sie sich
doch. Als sie den Aufzug erreichten, merkte sie, dass sie hier keineswegs in Sicherheit waren. Die Lage wurde jetzt eher noch
bedrohlicher. Zac schrie etwas, das sie nicht verstehen konnte. Er zeigte auf den Magnetkartenschlitz. Vera zog die Karte
aus der Tasche und steckte sie in den Schlitz. Das würde nicht funktionieren. Es war zu spät. Aber dann leuchtete ein Lämpchen
auf. Einer der drei Aufzüge war noch in Betrieb. Sie sollten ihre Chance bekommen. Sekunden später ging die Tür auf, und eine
Rußwolke schlug aus der Kabine. Zac bedeutete den beiden Frauen, Ruhe zu bewahren. Vorsichtig betraten sie einer nach dem
anderen den Aufzug. Als die Tür sich schloss, stellten sie schnell fest, dass etwas nicht stimmte. Die Temperatur war extrem
hoch, und der Aufzug schwankte bedenklich. Vera wusste, dass weder sie drei noch der Aufzug die Fahrt überstehen würden, legte
aber dennoch die Karte ein und drückte den Knopf zum obersten Stockwerk. Der Knopf strahlte weiß auf. Rai hatte sein Versprechen
gehalten. Hoffentlich würde sie Gelegenheit haben, ihm dafür zu danken. Isabel fasste sie am Arm und zog sie mit nach unten.
Die drei kauerten sich auf den Linoleumboden, um bei dem Qualm, der im Aufzug herrschte, einen Rest frischer Luft zu erhaschen.
Vera kniff die Augen zusammen. Sie brannten ihr von den Dämpfen und vom Schweiß, der ihr in Bächen die Stirn herablief. Außerdem
wagte sie es nicht, ihre Begleiter anzusehen. Würde sie sie in den Tod führen? Der Aufzug begann die Fahrt nach oben, und
Vera versuchte sich auszumalen, wie befreiend es sein musste, wenn sie sich ihrer Angst stellte. Sie musste es einfach tun,
sie konnte nicht länger den Kopf einziehen. Der Aufzug wurde heftig geschüttelt und hielt an. Sie entschlosssich, die Augen zu öffnen. Zac starrte auf die Anzeige und murmelte etwas vor sich hin; er schien den Aufzug zu beschwören,
bitte jetzt nicht aufzugeben. Es fehlten doch nur noch wenige Meter. Isabel hielt die Augen fest geschlossen. Sie zitterte.
Auch sie hatte Angst. Vera tastete auf dem Boden nach ihrer Hand. Als der Aufzug langsam wieder anfuhr, sprach Vera ein stilles
Gebet. Wenn eine von uns drei sterben muss, lass mich diejenige sein.
48
Wieder klingelte das Telefon. Eine Hand wühlte sich durch die schmutzigen Laken und tastete danach.
»Ja?«, fragte die schläfrige Stimme des Mannes, der soeben aus dem Schlaf gerissen worden war.
»Herrgott noch mal!«, fluchte Alicia am anderen Ende der Leitung. »Seit zwei Stunden telefoniere ich dir hinterher! Wo steckst
du denn?«
Márquez hielt sich das Telefon vom Ohr weg. Er hatte entsetzliche Kopfschmerzen.
»Ich war … ich …« Er fühlte sich, als hätte er eine ordentliche Tracht Prügel bezogen. Er konnte sich nicht entsinnen, eingeschlafen zu sein.
»Wie spät ist es?«
»Schalt sofort den Fernseher ein.«
Márquez strich sich über die Bartstoppeln. Er hatte diesen Anruf bekommen und dann mit Zac geredet. Er hatte einen Wutanfall
bekommen, weil er Zac nicht helfen konnte, und war zu Hause geblieben. Oder war er rausgegangen? Alles lag im Nebel.
»Bist du taub oder was? Du sollst den Fernseher einschalten!«, schrie Alicia jetzt in den Hörer.
»Aber was … was ist denn los?« Márquez zwang sich aufzustehen.
Er hatte noch die Klamotten vom Vortag an. Offenbar hatte er sich ins Bett gelegt, ohne sich auszuziehen. Das Neonschild der
Kneipe auf der anderen Straßenseite strahlte auf und schickte sein flackerndes Licht in das dunkle Zimmer. Vielleicht war
schon Nacht.
»Du bist doch irgendeiner Sache nachgegangen, im Turm,oder?« Márquez spürte, wie sich der Schleier hob, der sich über seinen Geist gelegt hatte.
Der Fernseher im Wohnzimmer lief noch, und das Bild der Zerstörung füllte den gesamten Bildschirm aus.
»Was zum Teufel …?«
»Hast du irgendeine Ahnung, was da passiert sein kann?«, fragte Alicia. Anstelle einer Antwort nur langes Schweigen. »Ángel …? He, Ángel.
Weitere Kostenlose Bücher