Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der 26. Stock

Titel: Der 26. Stock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrique Cortés
Vom Netzwerk:
Ordnung?«
    Isabel machte sich los und drehte sich zur Treppe um.
    »Vera, Vera ist in Gefahr.«
    In diesem Augenblick sah sie ihre Freundin. Sie starrte sie perplex an, als könnte sie es nicht fassen, sie hier vorzufinden,
     gesund und munter, eingehüllt in ein Meer aus Grautönen, die nicht einmal das rote Licht im Treppenhaus hatte durchbrechen
     können. Isabel umarmte Vera und fing an zu weinen.
    »Ich kann es nicht glauben«, sagte sie unter Tränen. »Gerade eben noch habe ich geglaubt, das Monster würde uns verschlingen.
    Vera nickte verständnisvoll. Auch sie hatte das Monster kennengelernt.
    »Was für ein Monster?«, fragte der Mann vom Fuß der Treppe aus. Isabel drehte sich zu ihm um.
    Aber Zac ließ ihr keine Zeit für eine Antwort. »Wir sollten uns besser beeilen. Wir müssen hier raus.«
    »Ich habe noch etwas zu erledigen«, wandte Vera ein.
    Isabel sah die Kamera, die am Boden lag, und bückte sich danach. Sie lief immer noch. Isabel hatte vergessen, sie auszuschalten,
     als sie aus der Toilette gelaufen war und die ersten Geräusche des Monsters gehört hatte.
    »Wenn Sie hier noch etwas erledigen«, warnte er Vera, »dann kann es gut sein, dass es das Letzte ist, was Sie tun.«
    »Und warum?«, fragte Vera, obwohl ihre Nase ihr schon die Antwort gegeben hatte.
    Zac sah auf die Uhr.
    »Hier brennt’s, und zwar seit Stunden.«
    Isabel hörte kaum zu. Ihre Aufmerksamkeit galt der kleinen Kamera in ihrer Hand.
    Sie kannte den Aufkleber nur zu gut, der da im oberen Eck des Möbelstücks klebte: »Eines Tages«. Die Kamera hatte auf dem
     Boden gelegen und in einem merkwürdigen Winkel die Rückseite des Aktenregals gefilmt. Daneben war der Körper ihres Bruders
     bis zu den Schultern hinauf zu sehen. Er stand auf Zehenspitzen, als versuchte er, über den Rand zu blicken. Er suchte nach
     etwas. Oder er wollte sichergehen, dass dieses Etwas endlichweg war. Jetzt ließ er sein Gewicht wieder auf die Fußsohlen sinken und sah sich nach beiden Seiten um. Isabel spulte vor.
     Sie musste sein Gesicht sehen. Zuvor hatte sie es nur flüchtig zu sehen bekommen.
    Teo zeichnete jetzt alles auf, was vor ihm ablief. Als Erstes erfasste die Kamera einen großen Raum, in dem Isabel selbst
     sich befunden hatte, bevor sie die Flucht ergriffen hatte. Auf einmal schwenkte die Kamera auf den Flur, als hätte Teo dort
     etwas Auffälliges bemerkt. Er ging auch in diese Richtung. Vielleicht hatte Teo gehört, wie sich eine Tonne Fleisch über den
     Teppich schob.
    »Geh nicht«, wisperte Isabel und drückte die Kamera mit beiden Händen. »Teo, komm zurück.«
    Der Flur war leer. Teo ging weiter, offensichtlich von etwas angezogen. Isabel hielt den Atem an, bis sie sah, wie ihr Bruder
     vor der Tür zu einem Büro stehen blieb.
    Hinter der Milchglasscheibe erstrahlte ein Licht. Teos Hand kam ins Bild; sie schloss sich um die Türklinke, drückte sie hinunter
     und öffnete die Tür. Hoffentlich würde sie diese Hand noch einmal berühren.
    Hinter der Tür stand ein Schreibtisch, dahinter ein schwarzer Ledersessel. Eine große Schreibtischlampe warf einen Lichtkegel
     auf die Mitte der Holzplatte. Darauf lagen Papier und ein paar Kugelschreiber. Teo betrat das Büro. Isabel machte für einen
     Moment die Augen zu. Sie wollte nicht mitansehen müssen, wie ihr Bruder in eine Falle gelockt worden war. Gleich würde er
     sich umdrehen und die Kamera auf eine wabernde Masse richten, die sich durch den Türrahmen schob. Und dann würde seine einzige
     Fluchtmöglichkeit darin bestehen, siebenundzwanzig Stockwerke in die Tiefe zu springen. Isabel machte die Augen wieder auf.
     Sie musste erfahren, was mit ihm geschehen war. Noch zwei Schritte, und Teo nahm etwas vom Tisch und hielt es vor die Linse.
     Das waren keine Kugelschreiber, sondern Buntstifte, und das Blatt Papier zeigte eine einfache Kinderzeichnung. In einem anderen
     Moment wäre Isabel gerührt gewesen. Hier aber wurde ihr ganz anders, denn sie wusste: Kein Manager hätte eines seinerKinder mit ins Büro gebracht und gesagt, mal mir was Schönes, um dann die Zeichnung mit dem Vorsatz, sie nächste Woche an
     geeigneter Stelle aufzuhängen, auf dem Schreibtisch liegen zu lassen. Nein, bestimmt nicht. Auf dem 27.   Stockwerk des Hochhauses herrschten andere Gesetze.
    Isabel runzelte die Stirn. Die Zeichnung war sehr einfach, sogar für ein Kind. Zwei Kreise mit mehreren Strichen darunter,
     das waren wohl Rumpf und Arme: eine größere Figur und eine kleine, Hand

Weitere Kostenlose Bücher