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Der 26. Stock

Titel: Der 26. Stock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrique Cortés
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noch näher. »Komm her und rette uns.«
    Isabel kniete sich neben Vera und hob die Videokamera auf. Nur noch ein halber Meter trennte sie von Miguels in Fetzen geschnittenem
     Gesicht. Sie merkte, dass er dicke rote Tränen vergoss. Blut.
    »Isabel   …«
    Wäre der Geruch nicht gewesen, so hätte sie am Ende vielleicht doch vor dem Ungetüm kapituliert, doch als Miguels Atem ihr
     Gesicht traf und sie mit ebendem Vanillearoma einhüllte, das Teo jeden Abend in ihrem Büro versprüht hatte, da reagierte etwas
     in Isabels Seele, als wäre sie auf übelste Art attackiert worden. Ihre Hand beschrieb eine Kurve durch die Luft. Die Kamera,
     die sie hochhielt, prallte gegen Miguels Gesicht, und sein Kopf zerplatzte. Die Antwort des Monsters ließ nicht auf sich warten.
     Dutzende von Mündern erschienen an der Oberfläche und ließen einen Klagelaut ertönen, wie Miguels Mund ihn nun nicht mehr
     ausstoßen konnte. Einen Augenblick lang wedelten seineHände auf der Suche nach dem Kopf in der Luft herum, dann wurden sie zusammen mit dem Rumpf verschluckt. Andere Gesichter
     nahmen Miguels Platz ein, während die formlose Masse zurückwich und reglos verharrte. Isabel begriff instinktiv, was passieren
     würde. Die Finger ihrer freien Hand krallten sich in Veras Kleid und zerrten sie mit aller Kraft zur Seite. Die Masse von
     Gliedern stürzte sich auf die Stelle, an der sie noch Sekunden zuvor gekauert hatten, aber es gelang Isabel auszuweichen,
     und dann flüchtete sie. Wieder zahllose Klagelaute. Veras Gewicht lastete schwer auf ihrer einen Schulter, die Kamera, von
     der noch immer Miguels Blut tropfte, hatte sie in der anderen Hand. Sie wollte weder Vera noch die Kamera zurücklassen.
    Ihre Freundin war eine tapfere Frau, die alles getan hatte, um ihr zu helfen. Und die Kamera konnte ihr womöglich helfen herauszufinden,
     was mit Teo passiert war. Isabel stolperte vorwärts und wurde dabei immer langsamer. Unter der Last gaben ihre Knie allmählich
     nach. Sie war dem Monster ausgeliefert. Wenn es sie und Vera vernichten wollte, würde es das problemlos tun können. Es würde
     sich über sie stülpen, und sie würden augenblicklich in der Masse von Körpern verschwinden. Und von dort aus gab es womöglich
     nie wieder ein Entrinnen. Doch Isabel erreichte ungehindert den Flur, an dessen Ende die Tür wartete, die ins Treppenhaus
     führte. Ein paar Meter weiter blieb Isabel stehen. Worauf wartete das Monster? Wollte es, dass sie Hoffnung schöpfte, damit
     sein Triumph noch süßer wurde? Sie drehte sich um und sah aus dem Augenwinkel zurück. Was sie erblickte, brachte sie dazu,
     sich ganz umzudrehen und Veras Kleidung loszulassen.
    »Nein   … Komm! Komm! Bleib um Himmels willen nicht stehen!«
    Die Gestalt stand mit dem Rücken zu ihr mitten im Raum vor dem Ungetüm. Sie trug ein Kleid, das einem weißen Nachthemd glich,
     und glänzend rote Schuhe mit rosa Strümpfen. Isabel konnte das Gesicht nicht erkennen, sah nur die üppige blonde Mähne und
     die feingliedrigen, blassen Hände. Eine innereStimme sagte ihr, dass dieses Mädchen wunderschön war. Das Ungetüm schob sich auf sie zu. Seine massige Form hatte sich verändert.
     Nun war es kreisrund, pulsierte aber immer noch, als würde darin etwas atmen.
    »Komm hierher!«, rief Isabel und winkte der weißen Gestalt verzweifelt. »Sonst bringt dich das Monster noch um!«
    Dann ging alles ganz schnell. Der Mittelteil der kugelförmigen Masse wölbte sich nach hinten und stülpte sich über das reglose
     Mädchen wie ein Insektennetz. Es gab keine Schreie, nur Gelächter aus vielzähligen Kehlen, die ein neues Mitglied begrüßten.
     Die Kugel zog sich zusammen und nahm wieder ihre ursprüngliche Stellung ein. Isabel lief zum nächstbesten Schreibtisch, nahm
     eine Computertastatur und schleuderte sie auf das Ungetüm.
    »Lass sie los!«
    Aber das Monster rückte nur weiter vor. Isabel zögerte, trat dann wieder zu Vera und zog sie ans Ende des Flures, Meter um
     Meter. Sie hörte, wie das Gelächter näher kam und die Leuchtröhren zerplatzten, wenn das Ungetüm daran vorüberkroch. Es hatte
     mit der letzten Mahlzeit weiter an Umfang zugelegt. Isabel beschleunigte noch einmal ihren Schritt. Wer auch immer die Kleine
     gewesen war, sie hatte ihr und Vera eine letzte Chance geben wollen. Sie hatte sich für sie geopfert. Jetzt mussten sie es
     schaffen, denn nur so konnten sie der jungen Frau dafür danken.
    Zehn Meter.
    Eines Tages wirst du fortgehen und

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