Der 26. Stock
zuckte er nur mit den Achseln.
»Ich weiß es nicht, Vera.«
Schnell beugte er sich zu ihr hinüber, als er sah, dass sie ihrem Unmut Luft machen wollte, und verschloss ihren Mund mit
einem Kuss. Sie küssten sich lange, bis sie sich schließlich seufzendvon ihm löste, nach ihrer Handtasche griff und die Wagentür öffnete. Als er Anstalten machte, ebenfalls auszusteigen, hielt
sie ihn am Arm zurück.
»Nein, Alberto, du kommst sonst morgen nicht aus den Federn. Danke für den schönen Abend.«
Alberto zog missbilligend eine Augenbraue hoch. In all den Jahren, die sie nun schon zusammenarbeiteten, war er noch nie zu
spät ins Büro gekommen.
»Und wenn wir alles hinter uns lassen und von hier weggehen?«, fragte er sie aus einem plötzlichen Impuls heraus. »Meine Jungs
kommen inzwischen ohne mich klar, und deine Töchter könnten wir mitnehmen. Lass uns in einer anderen Stadt noch einmal ganz
von vorn anfangen, Vera.«
Seine Geliebte schüttelte lächelnd den Kopf.
»Für so verrückte Ideen ist es heute schon viel zu spät. Lass uns morgen darüber reden, ja? Schlaf gut.«
Alberto nickte wortlos. Er wollte ihr nicht sagen, dass er in den letzten Tagen kaum ein Auge zugetan hatte. Zum Glück hatten
die Menschen in seiner nächsten Umgebung nichts davon gemerkt. Auch Vera nicht, die sich nun auf der Schwelle der Eingangstür
noch einmal umwandte, um ihm einen Abschiedskuss zuzuwerfen, bevor sie zum Aufzug eilte.
Ein leichter Nebel senkte sich über die Außenbezirke, als Alberto die Auffahrt Richtung Stadtmitte nahm. Unter anderen Umständen
hätte er sich jetzt damit getröstet, dass Vera recht hatte. Sie hatte Schuldgefühle, obwohl er ihr immer wieder versicherte,
dass seine Ehe schon vor Beginn ihrer Affäre gescheitert war. Er liebte Vera, es wäre nur recht und billig, reinen Tisch zu
machen. Und auch seine Frau hätte es verdient, keine Lügen mehr aufgebunden zu bekommen. Alberto kramte im Handschuhfach nach
einem Päckchen Ducados. Er hatte wieder mit dem Rauchen angefangen, als vor einem knappen Monat alles begann. Er steckte sich
jedoch immer nur heimlich eine an, denn er wollte sich vor niemandem deswegen rechtfertigen müssen. Er wusste, dassviele in Zeiten großer Freude oder Sorge rückfällig wurden, und an Freuden hatte er in den letzten Wochen nicht mehr gekannt
als Veras Rundungen und seinen nagelneuen Mercedes, mit dem er nun nach Hause brauste.
In den Straßen des Zentrums zuckten die Neonreklamen der Theater, Varietés und Kinos. Alberto dachte an Eduardo, der zwei
Wochen zuvor den Tod gefunden hatte. Eduardo, ein großer Fan koreanischer Filme. Er war schon leidenschaftlich gern ins Kino
gegangen, als er noch die Botengänge zwischen den beiden Gebäuden des Unternehmens erledigte. Lange bevor der Büroturm gebaut
worden war. Alberto versuchte sich vorzustellen, wie sein jüngster Sohn die bevorstehenden Ereignisse aufnehmen würde, als
etwas in der Innentasche seines Jacketts zu vibrieren begann. Er hielt am Straßenrand und zog sein Handy heraus. Auf dem Display
blinkte ein Name. Vera.
»Ja?«
Nur ein Keuchen am anderen Ende der Leitung.
»Vera? … Hallo?«
Wieder dieses heftige Atmen, und dann:
»Komm sie holen, du Arschloch.«
Alberto blieb fast das Herz stehen, als er die Männerstimme erkannte. Er stammelte irgendetwas, doch der andere hatte schon
aufgelegt. Wie im Traum warf er das Handy auf den Beifahrersitz, wendete, ungeachtet des lauten Gehupes hinter ihm, mitten
auf der breiten Straße und gab Gas. Noch nie war er so durch die Stadt gerast.
Wenige Minuten später trat er vor Veras Wohnhaus auf die Bremse.
Mit zitternder Hand drückte er auf die Wohnungsklingel seiner Geliebten.
»Komm, Vera, mach auf!«
Der Türsummer blieb stumm.
»Komm schon, Schatz!«, rief er, während er im Stillen ihr Misstrauen gegenüber allen Männern verfluchte, auch wenn er wusste,
dass genau die sie so argwöhnisch hatten werden lassen.Er wollte schon beim nächstbesten Nachbarn klingeln, um ins Haus zu gelangen, als doch noch eine leise Antwort aus der Gegensprechanlage
kam.
»Wer ist da?«
Die Stimme von Veras ältester Tochter.
»Clara, ich bin’s, Alberto. Mach auf.«
»Wer?«
Da wurde ihm bewusst, dass das Mädchen ihn höchstens zwei-, dreimal gesehen haben mochte. Bestimmt konnte sie sich nicht mehr
an ihn erinnern.
»Alberto. Ich bin ein Kollege deiner Mutter. Mach bitte auf.«
Der Hörer wurde aufgelegt und
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