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Der 26. Stock

Titel: Der 26. Stock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrique Cortés
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man uns deswegen im
     Unklaren gelassen hat?«
    Isabel warf Rai einen verwunderten Blick zu. Unter gewöhnlichen Umständen wäre er explodiert, wenn ein Kollege ihn so angegangen
     wäre, nun aber fuhr er sich nur mit beiden Händen durchs Haar und hielt kurz inne, bevor er mit ruhiger Stimme erwiderte:
    »Tut mir leid, Hugo. Der Vorstand hat so entschieden. Ich habe nur die Anweisungen von oben befolgt.« Er räusperte sich. »Wie
     auch immer, man hat mir versichert, dass das Unternehmen in den nächsten Tagen eine offizielle Erklärung dazu abgibt.« Er
     sah Hugo an. »Wenn du dich von mir übergangen fühlst, bitte ich dich um Entschuldigung. Das lag nicht in meiner Absicht.«
    »Hm   …«, brummte Hugo noch immer sauer, aber ohne recht zu wissen, was er entgegnen sollte. Offensichtlich hatte auch er von Rai
     keine derart diplomatische Antwort erwartet.
    Die meisten Anwesenden hatten die Mitteilung ihres neuen Chefs ungerührt aufgenommen. Bei Hugo, Cassandra und Isabel aber
     lag die Sache anders. Die drei hatten lange mit Hernán zusammengearbeitet und kannten ihn gut. Isabel selbst hatte viel von
     ihm gelernt, und sicher auch Rai. Vielleicht hatte er deshalb Verständnis für Hugos Position gehabt.
    »Gut, Leute, wie ihr wisst, hat mir das Unternehmen die Leitung der Abteilung Human Resources anvertraut, und ich versichere
     euch, dass ich mein Bestes tun werde. Darüber hinaus wurde ich gebeten, euch mitzuteilen, dass die Gehälter der Teamleiter
     in unserer Abteilung zum Ende des laufenden Monats um zwanzig Prozent angehoben werden.«
    Isabel sah, wie die Mehrzahl der Gesichter aufleuchtete. Hugo lächelte nicht, er hatte die Stirn gerunzelt. Als er merkte,
     dass Isabel ihn ansah, bewegte er still die Lippen. Isabel brauchte nichts zu hören, um ablesen zu können, was er da sagte:
     »Diekaufen uns.« Am anderen Ende des Tisches kritzelte Cassandra etwas auf ein Blatt, offenbar in Gedanken vertieft; die Locken
     verdeckten ihr Gesicht.
    »Jetzt wollte ich noch auf ein letztes Thema zu sprechen kommen. Es geht um unseren Bericht bezüglich der Freistellungen in
     den jüngst aufgekauften Unternehmen.«
    Isabel riss die Augen weit auf. Eine der Folgen davon, dass Rai nun den Chefposten innehatte, hätte sie beinahe vergessen:
     Er traf nun die Entscheidungen. Sie betete, dass nicht das eintreten möge, was sie befürchtete. Rai fuhr fort:
    »Ich habe die Lage analysiert und bin zu der Ansicht gelangt, dass eine Restrukturierung der betreffenden Firmen erforderlich
     ist. Somit wird unsere Abteilung die Entlassungen befürworten.«
    »Nein!« Isabel konnte einfach nicht still bleiben. »In meinem Bericht komme ich zu einem ganz anderen Fazit!«
    Rai sah sie ernst an, und für einen Sekundenbruchteil zeigte sich ein abschätziger Zug um seine Mundwinkel. Sie kannte diesen
     Gesichtsausdruck. Sie hatte ihn schon oft über sich ergehen lassen müssen.
    »Isabel, du wirst hoffentlich einsehen, dass ich es bin, der letztlich die Entscheidung zu treffen hat.«
    Rai hatte das Wort »ich« betont. Hernán hatte sich immer von ihnen beraten lassen. Isabel wollte die Hoffnung jedoch noch
     nicht aufgeben.
    »Rai, das Gutachten liegt bei mir im Büro, ich kann es holen und   …«
    »Nein«, unterbrach er. »Isabel, wir kennen alle deine Meinung zu dem Thema, und ich werde jetzt nichts dagegen einwenden,
     weil ich das respektiere, aber du wirst dich an die Entscheidungen deiner Vorgesetzten halten müssen.«
    »Aber   …«
    Rai durchbohrte Isabel mit seinem Blick. Die Mehrzahl der Anwesenden sahen sie ähnlich wütend an: Was fiel ihr ein, sich schon
     beim ersten Meeting mit ihrem neuen Chef anzulegen? Isabel ballte wütend die Fäuste. Hilfesuchend blickte sie zu ihrenlangjährigen Kollegen. Cassandra saß immer noch gedankenverloren da und kümmerte sich nicht darum, was jenseits ihres Blatts
     Papier vor sich ging. Hugo jedoch sah ihr genau ins Gesicht. Und seine Augen sagten: »Vergiss es, das bringt dich nicht weiter.
     Rai hört sowieso nicht auf dich.« Und da ließ sie es bleiben. Zu gerne wäre sie stark gewesen und hätte Rai die Stirn geboten,
     aber allein traute sie sich das nicht.
    »Gut, Leute. Das war alles«, erklärte er zufrieden. »In den nächsten Tagen werde ich einen Arbeitsplan erstellen, der sich
     im Wesentlichen daran orientieren wird, was unter meinem Vorgänger üblich war. Irgendwelche Fragen?«
    Die Antwort war Stille. Daraufhin erklärte Rai das Meeting für beendet und

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