Der 26. Stock
worden. Die
Ärztin erklärte Isabel, dass es keine Blutgerinnsel im Hirn gegeben habe, Carlos habe jedoch eine Gehirnquetschung erlitten
und lag deshalb im Koma. Es würde Tage dauern, bis er wieder zu Bewusstsein kam. Der Blutverlust habe mehrere Transfusionen
erforderlich gemacht,doch das Schlimmste sei nun überstanden. Isabel, die sich etwas beruhigt hatte, setzte zu einer Frage
an, doch die Ärztin kam ihr zuvor. Der Untersuchungzufolge musste Carlos von mehreren Tätern verprügelt worden sein.
»Vielleicht war es eine Bande Halbstarker. Aber das wäre verwunderlich.«
»Wieso?«, wollte Isabel wissen. In den Stunden des Wartens war dies die einzige Erklärung gewesen, die ihr eingefallen war.
»Ihr Freund ist nicht ausgeraubt worden. Seine Geldbörse, die Uhr – alles ist da. Wir haben trotzdem die Polizei eingeschaltet.
Die Sachen werden bis zum Abschluss der Untersuchung in Händen der Ermittler bleiben. Wir sind in derartigen Fällen zu diesem
Vorgehen verpflichtet.«
Dann nannte die Ärztin ihr Carlos’ Zimmernummer und Isabel ging zurück ins Wartezimmer, um Teo zu wecken.
Vier Leuchtstoffröhren tauchten den Raum in ein bleiches Licht. Carlos’ regloser Körper lag unter den Laken. Im Nebenbett
lag eine alte Frau, von deren Nasenlöchern zwei Schläuche zu einem großen Beatmungsgerät neben dem Bett verliefen. Sie schlief.
Eine Schwester zeigte Isabel zwei kleine Sessel, die an den Fußenden der Betten standen.
»Sie können dort Platz nehmen«, erklärte sie. »Wenn Sie Decken und Kissen brauchen, fragen Sie einfach die erstbeste Pflegekraft,
die auf dem Korridor vorbeikommt.« Mit diesen Worten war sie draußen.
Isabel drehte sich zu Teo um, der Carlos nur reglos anstarrte. Isabel war nicht sicher, dass es ihm guttun würde, das alles
mitzuerleben, aber sie hatte nicht die Kraft, es zu verhindern. Sie bat Teo, den breiteren Sessel zu nehmen, und hob seine
Beine auf einen kleinen Schemel. Dann besorgte sie ein paar Decken und Kissen, rückte den zweiten Sessel neben Teos, nahm
seine Hand zwischen die ihren und küsste sie. So verharrte sie, bis sie sah, dass er eingeschlafen war. »In welcher Beziehung
stehen Sie zu dem Señor?«, hatten die Rettungssanitäter gefragt, als Carlos’ abtransportiert wurde. »Ich bin mit ihm befreundet.«
Befreundet. Vielleicht hätte sie sagen sollen, wir sind Arbeitskollegen. Sie sah ihn an. Er sah schlimm aus. Sein Gesicht,
sein Hals unddie Hände waren mit Schwellungen und blauen Flecken übersät. Obwohl im Prinzip keine künstliche Beatmung notwendig gewesen
wäre, hatte ihr die Ärztin erklärt, habe man beschlossen, ihn zur Sicherheit ein paar Tage lang an das Gerät anzuschließen.
So sah ihn Isabel also mit zwei Schläuchen in der Nase. Er hatte die Lider geschlossen. Wann würde sie ihn wohl wieder lächeln
sehen? Der gleichmäßige Piepton des Geräts, das seine Vitalfunktionen aufzeichnete, erfüllte den Raum. Sie sah sich selbst
vor vielen Jahren, den Blick auf ihre Mutter gerichtet. Ihr Vater war sofort tot gewesen, während der kleine Teo mit dem Kopf
voraus die Windschutzscheibe durchschlug. Als ihre Mutter starb, war Isabel gerade erst volljährig geworden. Tag und Nacht
hatte sie an ihrer Seite gesessen, während der Krebs sie nach und nach verzehrte. Bis Isabel eines Nachts aus dem Schlaf hochgeschreckt
war, da mehrere Krankenschwestern und zwei Ärzte ins Zimmer stürmten, Wiederbelebungsausrüstung in den Händen. Man hatte sie
hinausgeschickt. Danach hatte sie sie nicht wiedergesehen, nicht wiedersehen wollen.
Schon immer hatte sie sich gefragt, ob ein Koma wohl wie Schlaf war oder ob es dort Schmerz gab. Vielleicht hatte Carlos jetzt
Schmerzen, würde sie aber vergessen haben, wenn er aufwachte. Sie nahm seine Hand und drückte sie. Er war so plötzlich in
ihrem Leben aufgetaucht. Zu lange schon hatte sie jemanden zum Reden gebraucht, nicht eine Freundin, sondern einen Mann, mit
dem sie eine tiefe innere Bindung aufbauen konnte. Sie wollte ihn nicht verlieren. Sie schloss die Augen und legte den Kopf
aufs Bett, neben Carlos’ Hand. Er roch gut. Sie ließ sich von einem Strudel von Gedanken mitreißen und landete bei dem Moment
ihrer ersten Begegnung, dem Bewerbungsgespräch. Jemand hätte das Bild dieses Augenblicks wie eine Filmaufnahme anhalten und
ihnen erklären sollen, dass sie einander lange danach in dieser Situation wiederfinden würden: er im Koma in einem
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