Der 26. Stock
den Sinn, dass er letztendlich wohl doch ein Feigling war. Er schlug die Augen auf. Die Straße war verschwunden. Er
befand sich an einem seltsamen Ort. Unzählige Gesichter, die er nicht kannte, umringten ihn. Dutzende von Menschen, die ihn
still betrachteten. Männer, Frauen, Alte, Kinder … Wer waren sie? Der Boden unter ihm war weiß, und ein strahlendes Licht ging von ihm aus. Er sah weder Häuser noch Laternen
noch Gehsteige, nur Menschen, Menschen mit leuchtenden Gesichtern. Die Gestalt mit dem Hut war jedoch nicht mehr da. Eine
korpulente Frau durchbrach den engen Kreis der Umstehenden. Ihr Gesicht war verunstaltet, die eine Hälfte war eine formlose
Masse. Sie näherte sich ihm, sah ihn einige Sekunden lang an, bewegte die Lippen, doch kein Laut kam aus ihrem Mund. Dann
hob sie langsam die Hand und versetzte ihm einen fürchterlichen Schlag. Er versuchte sich instinktiv zu schützen, aber es
war zu spät, er fiel auf die Knie. Er wollte um Gnade bitten, doch ein weiterer Schlag traf ihn bereits am Kiefer. Der Kreis
um ihn herumrückte immer näher. Das Letzte, was er sah, war ein etwa elfjähriger Junge mit asiatischen Zügen, der sich wild gestikulierend
ebenfalls anschickte, ihn zu schlagen. Er rollte sich auf dem Boden zusammen, mit dem Gesicht nach unten, und begann zu schreien.
Er brüllte seine Todesangst aus vollem Hals heraus, aber er konnte seine eigenen Schreie nicht hören. Der Schmerz war entsetzlich,
und er spürte, wie ihm warmes Blut über die Haut rann. Im letzten klaren Augenblick dachte er, wenn er in Ohnmacht fiele,
würde zwar der Schmerz schwinden, doch auch sein Leben. Neue Schläge trafen seinen Kopf, seinen Rücken, er hörte seine Knochen
brechen. Ein Knie traf ihn am Schädel, und ein stechender Schmerz durchzuckte seine Schläfe. Er verlor das Bewusstsein.
Er hätte nicht sagen können, wann er wieder zu sich kam, denn nichts hatte sich verändert. Immer noch waren all die Leute
über ihm und prügelten weiter auf ihn ein. Er konnte kaum noch atmen. Er riss die Augen auf und versuchte sich auf den weißen,
strahlenden Boden zu konzentrieren. Da wurde er auf einmal hochgehoben und durch die Luft geworfen. Er verspürte keine Angst.
Er spürte nicht einmal mehr Schmerz. Er hatte eine Schwelle überschritten, sein Körper registrierte nichts mehr. Er sehnte
nur noch das Ende herbei.
Auf einmal war alles vorbei. Er hörte das Rasseln seiner malträtierten Lungen. Ihm drehte sich der Magen um, und er musste
sich ein weiteres Mal übergeben. Er schlug die Augen auf. Die Leute waren verschwunden. Er war allein. Vor ihm, im Halbdunkel,
eine weiße Wand und eine Tür. Er wusste, dass es mit ihm vorbei war, doch eine innere Stimme forderte ihn auf, an diese Tür
zu klopfen. Stück für Stück richtete er sich auf. Die Fliesen waren verschmiert von Blut und Erbrochenem. Mit einer Hand packte
er den Türgriff und mit der anderen hämmerte, hämmerte, hämmerte er gegen die Tür, unter Aufbietung der letzten Kraft, die
ihm noch geblieben war. Er hämmerte an diese Tür zum Himmel oder zur Hölle, bis er nicht mehr konnte.
Isabel erwachte. Sie hatte etwas gehört. Oder hatte sie nur geträumt? Die Zimmerlampe brannte, und sie war noch angekleidet.
Sie musste auf dem Sofa eingeschlafen sein. Isabel sah auf die blinkende Uhr am Videorecorder. Sie hatte wohl noch keine Stunde
geschlafen. Ihr brummte der Kopf. Sie hatte etwas sehr Seltsames geträumt, und dann war sie aufgewacht. Geweckt von einem
Geräusch. Sie lauschte angestrengt. Nichts. Mühsam richtete sie sich auf, noch etwas schlaftrunken, und ging in das Zimmer
ihres Bruders. Vielleicht hatte er nach ihr gerufen. Sie schob die Tür ganz leise auf. Doch Teo lag ganz ruhig da und schnarchte
leise.
Isabel lächelte. Er hatte einen schönen Geburtstag gehabt. Sie ging in die Küche, um sich ein Glas Wasser zu holen. Da hörte
sie ein Geräusch, klar, fast schrill; schnell lief sie zurück ins Wohnzimmer, wobei sie einen Teil des Wassers vergoss. Hektisch
kramte sie in ihren Manteltaschen. Sie wollte nicht, dass Teo aufwachte. Ach so, das Handy, dachte sie erleichtert. Ohne den
Anrufernamen zu sehen, hob sie ab.
»Ja?«
»Hallo.« Isabel erkannte Hugos Stimme. »Entschuldige, dass ich dich so spät anrufe. Wie war Teos Geburtstag?«
»Schön, sehr schön. Wir haben wirklich Spaß gehabt.«
»Habe ich dich geweckt?«
»Nein, keine Sorge, ich war noch in der
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