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Der 26. Stock

Titel: Der 26. Stock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrique Cortés
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Straße war leer, und der Nebel senkte
     sich wieder über die Stadt. Müde ging er weiter. Ein Gedanke spukte ihm im Kopf herum: Wenn die Vernunft nicht weiterführt,
     bleibt nur das Absurde. An einer Ecke bog er in eine weitere menschenleere Straße, als auf einmal jemand seinen Namen rief.
     Er drehte sich um, konnte aber keine Menschenseele entdecken. Hatte er sich das bloß eingebildet? Etwas in seinem Körper drängte
     ihn zu fliehen, sich zu verstecken. Beunruhigt ging er weiter, und seine Schritte hallten in der leeren Straße wider. Er war
     allein mit dem Nebel, als wären die Häuser vor Jahrhunderten verlassen worden. Nicht einmal das Miauen einer Katze zwischen
     Müllsäcken, kein Rollladen, der heruntergelassen wurde, kein Babygeschrei. Da hörte er zum zweiten Mal seinen Namen. Wieder
     drehte er sich um. Diesmal war er sich sicher. Das war nicht der Wind gewesen. Es gab keinen Wind, nur Nebel. Und da sah er
     in der Ferne eine schemenhafte Gestalt. Er spürte, wie ihm ein Schweißtropfen die Stirn herunterrann. Er sah auf seine Hände:
     Sie zitterten. Er marschierte weiter und versuchte, an etwas anderes zu denken. Er war hungrig. Er würde in die nächstbeste
     offene Kneipe gehen und etwasLeckeres bestellen, die Spezialität des Hauses. Da, das Echo von Schritten. Er blieb abrupt stehen und wandte sich um. Die
     schemenhafte Gestalt hatte ebenfalls innegehalten, war jedoch schon etwas näher gekommen. Ob er verfolgt wurde? Er wünschte
     sich, dass es ein Dieb wäre, ein Straßenräuber. Dem könnte er das wenige Geld geben, das er bei sich hatte, und dann würde
     der andere für immer verschwinden. Aber wenn es kein Dieb war   …
    »Hallo?«
    Sein Ruf verlor sich in dem zähen Nebel. Die Gestalt verharrte dort, reglos, anonym. Er drehte sich wieder um und beschleunigte
     seinen Schritt. Rennen wollte er nicht, er war kein Feigling. Nach einigen Sekunden sah er sich erneut um. Der andere hatte
     sich ebenfalls in Bewegung gesetzt. Jetzt trennten sie nur noch zwanzig Meter, aber er konnte noch immer nicht mehr als die
     Silhouette ausmachen. Er hätte schwören können, dass die Gestalt einen Hut trug. Er ging noch etwas schneller. Gott, er hätte
     jemandem davon erzählen, sich von der Last befreien sollen, die ihn drückte. Dann wäre jetzt alles einfacher. Ein paar Andeutungen
     hatte er gemacht, zu einem Freund, aber nicht genug, als dass er ihm die Angelegenheit hätte überlassen können, frei, weit
     fortzulaufen, weit weg von dieser Straße, von dieser Gestalt, weit weg vom Büroturm. Ihm kam eine Idee. Wer auch immer ihm
     da folgte, er würde es ihm erzählen, er würde ihm beichten und der andere würde verstehen müssen.… Er trug keine Schuld, wirklich
     nicht, er wusste von nichts. Er blieb stehen. Der Verfolger hatte ihn eingeholt. Er war da, direkt hinter ihm. Er konnte seinen
     Atem im Nacken spüren. Langsam wandte er sich um und suchte den Blick des anderen. Dessen Augen waren fünfzehn Zentimeter
     vor ihm, aber er konnte nichts erkennen. Die Gestalt war ein Schatten, ein unklarer Schemen, der sich mit dem Nebel vermischte.
     Nur sein Atem war zu hören.
    »Entschuldige   … Wer bist du? Warum folgst du mir?«
    Die Gestalt antwortete nicht.
    »Verdammt, sag mir, wer du bist! Sag es mir!«
    Er schrie. Plötzlich überwältigte ihn ein durchdringender Geruchnach verwesendem Fleisch, der von der Gestalt auszugehen schien. Es war wie ein Schlag in die Eingeweide, und er sank in die
     Knie und musste sich übergeben. Mühsam kam er wieder zu Atem, aber er war unfähig, den Blick zu heben. Er konnte diese gesichtslose
     Gestalt nicht ansehen.
    »Verzeih mir, bitte, ich bin doch nicht daran schuld.«
    Seine Schreie gingen in Weinen über. Er flehte sein Gegenüber an, zu verschwinden, ihn in Frieden zu lassen, ihm die Chance
     zu geben, alles zu vergessen, doch die Gestalt regte sich nicht. Da begriff er, dass es keinen Weg zurück gab und keine Fluchtmöglichkeit.
     Es blieb nur noch eines zu tun: Mit zitternden Knien erhob er sich; er konnte sich kaum auf den Beinen halten. Er neigte den
     Kopf zum Gruß, drehte sich um und marschierte wieder los. Der andere hatte ihn bald eingeholt. Zwei schwarze Hände umschlossen
     seinen Hals, aber er hörte nicht auf zu gehen. Sekunden später war es, als bräche seine Seele entzwei, um einem neuen Wesen
     Platz zu machen. Der Verwesungsgestank hüllte ihn ein, und als die Panik ihm das Blut in den Adern stocken ließ, ging ihm
     durch

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