Der 26. Stock
Küche.«
Vom anderen Ende der Leitung kam ein zögerliches Hüsteln.
»Verzeih, also, ich rufe dich noch an, weil … Ich wollte mit dir reden. Ich habe ein paar Telefonate geführt … Jedenfalls …«
Isabel hielt einen Moment lang das Handy vom Ohr weg. Was hatte sie da gerade gehört? Ein Klopfen. Das musste es gewesen sein,
wovon sie aufgewacht war. Sie sah hinaus in die Diele. Nichts. Nur Stille.
»… in der französischen Klinik wissen sie nichts von Alberto. Ich weiß nicht, ob Rai sich das ausgedacht hat oder ob er die Information
von oben hat; ich glaube eher Ersteres. Kurzum, niemand weiß, wo Alberto steckt … Isabel, bist du noch dran?«
»Ja, ja, es ist nur …«
Da, noch ein Klopfen! Dann ein dumpfer Schlag. Das Herz schlug Isabel bis zum Hals. Das war an der Tür. Jemand hämmerte bei
ihr an die Tür. Immer wieder.
»Es ist nur was? Isabel?«
Mit dem Handy in der Hand ging sie auf die Tür zu, warf einen Blick durchs Guckloch, aber auf dem Treppenabsatz war es dunkel.
»Hallo? Ist da jemand?«
»Isabel!« Hugo schrie jetzt fast ins Telefon. »Was ist los?«
»Jemand hat an meine Tür gehämmert, aber … da ist niemand.«
»Was? An deine Wohnungstür? Um die Uhrzeit?«
»Ja …«
»Mach nicht auf, Isabel, mach ja nicht auf!«
Aber sie hörte Hugo schon nicht mehr. Sie hatte ein Ohr an das Holz gepresst, um besser lauschen zu können. Ein weiterer,
wenn auch schwächerer Schlag ließ ihr Herz noch schneller pochen. Diesmal kam es von unten an der Tür. Und dann vernahm sie
schwach eine vage bekannte Stimme:
»Isa-bel …«
Sie packte den metallenen Türknauf, zögerte kurz, gab sich dann aber einen Ruck und öffnete die Tür. Die neunzig Kilo, die
ihr entgegenfielen, hätten sie umgeworfen, wenn sie nicht rechtzeitig beiseitegesprungen wäre. Sie schrie vor Schreck auf
und ließ dabei das Telefon fallen, aus dem Hugos Stimme ihren Namen brüllte.
Vor ihr auf der Schwelle lag er, mit dem Gesicht nach unten, blutend, die Kleidung zerfetzt. Dieser Mann, das konnte nicht
er sein. Das konnte einfach nicht sein. »Isabel«, hörte sie hinter sich Teos schlaftrunkene Stimme. Sie kniete nieder. »Ruf
einen Krankenwagen!«
»Was ist pas…?«
»Mach schon!«
Ihr Bruder gehorchte. Isabel beugte sich über den Körper unddrehte ihn behutsam um. Sein Gesicht war kaum wiederzuerkennen, aber er war es. Unter den aufgeplatzten, von einer Blutkruste
überzogenen Wangen war das sein Gesicht. Seine Lider waren zugeschwollen, die Augen ließen sich nur noch durch einen winzigen
Schlitz hindurch erahnen. Er öffnete den Mund und versuchte, etwas zu sagen:
»Hau … ab, bevor …«
Mit Tränen in den Augen bedeutete ihm Isabel, dass er nicht weitersprechen solle.
»Der Krankenwagen ist gleich da.« Teo trat neben die weinende Isabel und blickte entsetzt auf den Boden. »O mein Gott. Aber …
»Bring Wasser und Handtücher.«
Teo nickte und lief in die Küche. Sie strich mit der Hand über eine der wenigen Haarsträhnen, die nicht blutverklebt waren.
Der Schwerverletzte unternahm eine neuerliche Anstrengung, etwas zu sagen.
»Nein«, bat Isabel, »nicht reden.«
Er schloss die Augen. Sein Atem ging langsam und schwer. Sie streichelte ihm zärtlich das Gesicht.
»Was haben sie dir angetan, Carlos? Was haben sie dir nur angetan?«
11
»Hallo , entschuldigen Sie.«
Isabel schlug die Augen auf. Vor ihr stand die Stationsschwester.
»Frau Doktor Rodríguez erwartet Sie im Ärztezimmer. Den Korridor entlang, fünfte Tür rechts.«
Isabel richtete sich behutsam auf und spürte, wie der Kopf ihres Bruders schwer an ihrer Schulter lag. Sie sah auf die Wanduhr.
Sie warteten nun schon über drei Stunden. Eigentlich hatte sie Teo zu Hause schlafen lassen wollen, aber er hatte darauf bestanden
mitzukommen. Isabel mochte Krankenhäuser nicht, sie hatte sich dort schon immer unwohl gefühlt, wahrscheinlich, weil sie dann
an die schlimmsten Momente ihres Lebens erinnert wurde: an den Unfall, den ihr Vater und Teo gehabt hatten, an den Tod ihrer
Mutter …
Vorsichtig bettete sie Teos Kopf auf die Jacke, mit der sie sich zugedeckt hatte, und ging in das Ärztezimmer. Doktor Rodriguez
war eine junge Frau mit kindlichem Gesicht. Ihr Gesichtsausdruck war ernst. Die Untersuchung hatte ergeben, dass Carlos Prellungen
am ganzen Körper sowie einige Knochenbrüche davongetragen hatte. Zum Glück waren keine inneren Organe geschädigt
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