Der 26. Stock
Verschluss halten wollen. Du sagst uns jetzt auf der Stelle, wo sie ist.«
Rai drehte sich zu ihm um. Sein Gesichtsausdruck war noch immer gelassen. Er ging auf Hugo zu und sah ihm in die Augen. Isabel
hätte es nie für möglich gehalten, dass Rai so kaltblütig sein konnte.
»Ich werde es euch nicht sagen, und zwar aus dem einfachen Grund, weil ich es nicht weiß. Wenn du es unbedingt erfahren willst,
frag bei der Konzernleitung nach oder wende dich von mir aus an die Polizei. Ich weiß es jedenfalls nicht.«
»Und von Alberto weißt du auch nichts?«, fragte Hugo, der kurz davor war, die Beherrschung zu verlieren. »Hast du dir das
Märchen mit der Klinik in Paris ausgedacht? Dort weiß nämlich keiner was von ihm.«
Rai bat ihn mit einer Handbewegung, leiser zu reden. Fast unmerklich hatte er die Stirn gerunzelt.
»Diese Information kam auch von oben, und wenn Alberto nicht dort ist, bin ich nicht der geeignete Adressat für deine Frage.
Ich weiß nur eines: Man hat mir einen Posten anvertraut, den ich meines Erachtens auch verdient habe. Um ehrlich zu sein,
ich werde mich nicht mit meinen Vorgesetzten herumstreiten, weil eine Frau ihr Kind verliert und durchdreht.«
Isabel sprang auf und packte Hugo am Arm. Die Hand gegen Rai zu erheben, hätte alles nur noch schlimmer gemacht.
»Du bist ein widerlicher, zynischer Drecks … Ich werde persönlich dafür sorgen, dass meine alten Kumpel dich rauswerfen, verstanden?«
»Ja, alt sind sie«, gab Rai herausfordernd zurück. »Ziemlich alt.«
Die Tür ging auf, und die junge Sekretärin steckte den Kopf herein. Sie hatte offensichtlich mitgehört und den rechten Moment
abgewartet, um das Gespräch zu unterbrechen.
»Señor Lara, entschuldigen Sie die Störung. Brauchen Sie etwas?«
Rai nahm wieder Platz, sichtlich zufrieden, dass die neue Sekretärin seine Anweisungen so gut umsetzte.
»Keine Sorge, die Herrschaften wollten gerade gehen. Begleiten Sie die beiden bitte hinaus, und danach wünsche ich nicht gestört
zu werden.«
Die Sekretärin hielt die Tür auf und wartete, dass die beiden Gäste sich verabschiedeten. Hugo erhob keine Einwände. Er warf
Rai nur einen letzten verächtlichen Blick zu und ging hinaus. Isabel folgte ihm. Sie flüsterte ihm ein paar beruhigende Worte
zu, die Rai nicht hören konnte.
Nachdem die ungebetenen Besucher sein Büro verlassen hatten, blieb Rai alleine zurück. Er hatte hart darum gekämpft, eine
leitende Position zu erreichen, und jetzt sollte ihm niemand mit solchen Unverschämtheiten kommen. Schon gar nicht dieserSchwachkopf. Rai nahm sich vor, für Hugos Rauswurf zu sorgen. Ja, er würde die anderen Teilhaber dazu auffordern, Hugos Stelle
mit einem kompetenten Bewerber zu besetzen. Der Typ hätte ihn fast geschlagen. Für wen hielt er sich eigentlich? Rai wusste
genau, was Hugo jetzt tun würde. Bestimmt sagte er gerade zu Isabel, sie solle sich keine Sorgen machen, er werde dafür sorgen,
dass Rai auf der Straße landete. Der Alte hatte keine Ahnung, was es bedeutete, sich ihn, Raimundo Lara, zum Feind zu machen.
Aber das würde er schon noch erfahren. Und Isabel? Diese naive Seele, die sich von Hugo manipulieren ließ? Sie stellte ebenfalls
ein Problem dar, aber eines, das ganz einfach zu lösen war. Rai ging im Zimmer auf und ab. Der Gedanke, Hugo in einem Bericht
bloßzustellen, war sehr attraktiv, aber er wusste nicht, wie viele Freunde der Kerl nach all den Jahren in der Firma haben
mochte und ob diese bereit waren, für ihn einzustehen. Nein, ein Bericht könnte eines Tages gegen ihn verwendet werden. Aber
ein Anruf bei der geeigneten Stelle, eine adäquat formulierte Anschuldigung, und die Angelegenheit wäre erledigt. Rai trat
ans Fenster. Die Mittagssonne glänzte in den Wipfeln der Bäume, die die Gehsteige säumten. Fast konnte man das frisch gesprengte
Gras in den kleinen Vorgärten der Häuser riechen. Rai fand, dass die Aussicht nachts noch schöner war. Dann herrschte eine
fast geisterhafte Stille, das Licht der Laternen warf die Schatten der Bäume auf den Asphalt, und das Gebäude wurde von mächtigen
Bodenscheinwerfern angestrahlt.
Eine der winzigen Figuren dort unten zog Rais Aufmerksamkeit auf sich. Sie schien es nicht eilig zu haben und spazierte in
einer Art Zickzackkurs auf dem Gehsteig hin und her. Das war er, sein Problemfall, wie immer mit der Pfeife in der Hand. Er
war hinausgegangen, um seinen stinkenden Tabak einzusaugen und sich
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