Der 26. Stock
sperrte von innen ab.
»Hast du irgendeine Idee, was passiert sein könnte?«
»Nein, seit gestern Mittag in der Kantine habe ich sie nicht mehr gesehen. Vielleicht nimmt sie nicht ab, weil sie sauer auf
mich ist. Aber das ist kein Grund, heute nicht zur Arbeit zu kommen.«
»Nein.« Isabel schüttelte den Kopf. Sie trat wieder an den Schreibtisch und begann, in einer der Schubladen zu kramen. »Ich
habe gestern vor Feierabend noch mit ihr geredet. Sie sagte, sie hätte in letzter Zeit so wenig geschlafen und sei mit den
Nerven am Ende. Glaubst du, sie hat vielleicht einen Zusammenbruch?«
Hugo hob die Schultern. »Bei allem, was in letzter Zeit passiert ist, könnte das schon sein. Höchste Zeit, dass wir ein ernstes
Wörtchen mit Rai sprechen. Er hat uns einiges zu erklären, angefangen mit Alberto und der französischen Klinik, in die erangeblich eingeliefert wurde. Vielleicht weiß er ja auch etwas von Cass.«
»Ich habe dich im Übrigen gestern Abend noch angerufen«, sagte Isabel, während sie eine grüne Mappe aus der Schublade zog.
»Du warst beschäftigt, oder?«
»Ich war mit zwei Bereichsleitern ein paar Bierchen trinken. Zwei von den alten Hasen, die damals mit mir angefangen haben.
Merkwürdig, so ein Treffen an einem Montag. Sie haben mir nichts Konkretes erzählen können, waren aber auch der Meinung, dass
sich etwas in unserem Unternehmen verändert hat. Anscheinend werden gerade eine Menge Leute befördert, nicht nur auf unserem
Stockwerk. Hauptsächlich junge Leute. Einer von meinen alten Freunden vermutet, dass vielleicht irgendeine schmutzige Sache
gelaufen ist und die Mitwisser jetzt belohnt werden, damit sie stillhalten. Weißt du noch, worüber wir uns neulich unterhalten
haben? Wahrscheinlich könnte ich erreichen, dass du auch befördert wirst. Das ist die beste Methode, die mir einfällt, um
herauszufinden, was hier läuft. Ich selber bin zu bekannt, mir erzählt keiner etwas. Sogar die beiden Kumpels von gestern
könnten mir nur etwas vorgemacht haben. Sie wissen genau, wo bei mir der Hase im Pfeffer liegt.«
»Was meinst du damit?«, fragte Isabel etwas verwirrt.
»Na, du weißt schon. Ich bin schon so viele Jahre in der Firma und habe mich nie befördern lassen.«
Isabel fiel ein, was ihr Cassandra tags zuvor noch in der Tiefgarage gesagt hatte.
»Cass meinte gestern, ob ich mir jemals die Frage gestellt hätte, warum du nie eine Beförderung wolltest.«
»Ach, hat sie das?« Hugo zog die Augenbrauen hoch und beugte sich in seinem Stuhl vor. »Und was hast du geantwortet?«
»Na ja, ich habe ihr gesagt, dass du halt deinen Job gern machst, so wie ich. Aber so, wie sie reagiert hat, liege ich da
wohl ziemlich daneben.«
»Das stimmt«, erwiderte Hugo lakonisch. Er lehnte sich wieder in seinem Stuhl zurück und schlug die Beine übereinander.»Isa, du bist noch jung und noch nicht lange dabei; verglichen mit Cass und mit mir, meine ich. Wir haben uns beide nicht
befördern lassen wollen, weil … also, je weiter du in der Hierarchie aufsteigst, desto mehr Dinge erfährst du und desto mehr Verantwortung lastet auch auf
dir. Und mit der Zeit erfährt man dann auch von den Leichen im Keller, verstehst du, was ich meine?«
Isabel nickte, obwohl sie nicht sicher war, dass sie ihm folgen konnte. Irgendetwas war seltsam daran, wie Hugo das sagte.
Er war immer jemand gewesen, der gerne lang und ausgiebig erzählte. Jetzt aber saß er da und redete um den heißen Brei herum,
wie ein Erwachsener, der eine Heranwachsende aufklären soll. Deshalb war Isabel nicht überrascht, als er das Thema wechselte.
»Was ist denn das da?« Er zeigte auf die Mappe, die sie in der Hand hatte. Sie hielt sie ihm hin.
»Das ist der Grund, warum ich gestern versucht habe, dich zu erreichen.«
Hugo schlug die Mappe auf und betrachtete eine Zeit lang die Fotos: zwei Männer mit dem Rücken zur Kamera, einer davon in
Polizeiuniform, daneben ein dritter Mann am Boden. Dann sah er Isabel an, als wüsste er nicht, was dieses seltsame Bild mit
ihm zu tun haben könnte.
»Jemand hat mir diese grüne Mappe mit den Kopien am Freitag ins Büro gelegt«, erklärte sie. »Die erste hatte ich schon vorher
draußen im Gang am Kopierer gefunden. Ich wollte dir die Bilder beim Essen zeigen, aber dann habe ich’s vergessen.«
Hugo besah sich immer noch die Kopien, drehte sie hin und her.
»Hm, das Gebäude, ist das …?«, fragte er. Isabel nickte. »Aber was macht der
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