Der 26. Stock
Zusammenhang geben. Die Sache stinkt doch zum Himmel. Da kommt
zu viel zusammen. Wenigstens haben wir einen schweren Fehler vermieden.«
»Was meinst du?«, fragte Isabel, obwohl sie schon eine Ahnung hatte.
»Carlos zu erwähnen«, erwiderte Hugo. »Rai schien nichts von ihm zu wissen. Ich glaube, wir haben gut daran getan, ihm nichts
davon zu erzählen.«
Isabel schwieg.
»Es gibt nur einen Weg, wie wir herausfinden können, was hier los ist, jedenfalls solange Carlos nicht wieder bei Bewusstsein
ist.« Hugo stand auf und griff nach seiner achtlos abgelegten, zerknitterten Cordjacke. »Aber du müsstest dazu bereit sein.«
»Ich will die Wahrheit herausfinden. Sag mir, was ich tun soll.«
Hugo schüttelte den Kopf. »Dazu ist es noch zu früh.« Er steckte die grüne Mappe ein, die Isabel ihm gegeben hatte, und nahm
ein schwarzes Notizbuch mit Goldrand aus seiner Schreibtischschublade. »Pass auf dich auf und bleib wachsam. Wenn dir irgendetwas
Seltsames auffällt, gib mir Bescheid. Ich bin heute nicht mehr im Büro. Ich muss einiges erledigen und mit ein paar Leuten
reden. Wenn der Zeitpunkt gekommen ist, mir zu helfen, wirst du es schon erfahren. Darf ich deine Mappe mitnehmen?«
Isabel nickte, während Hugo das schwarze Notizbuch einsteckte.
»Wir sehen uns morgen. Und sprich bitte mit niemandem über die Angelegenheit.« Hugo sah Isabel in die Augen. »Wünsch mir Glück.
Wenn alles glattgeht, wissen wir morgen schon mehr.«
Damit ging er und ließ sie in seinem Büro zurück. Isabel ließ ihren Blick durch den Raum schweifen, während sie sich fragte,
ob es wohl schlimm war, dass sie Rai von Carlos erzählt hatte.Auf dem Weg hinaus trat sie versehentlich auf eine Zeitschrift. Nur Hugo konnte es sich leisten, in seinem Büro ein derartiges
chaotisches Chaos zu lassen, ohne dass ihm jemand die Leviten las. Und wahrscheinlich war er der Einzige auf dem ganzen Stockwerk,
der persönliche Kontakte nutzen konnte, um den Ereignissen auf den Grund zu gehen.
Isabel kehrte in ihr Büro zurück. Ihre Mitarbeiter hatten die Bewerbungsgespräche vom Vormittag übernommen. Die soeben erfolgte
Beförderung ihrer Kollegin Luna motivierte die anderen dazu, sich nicht zu heftig zu beschweren, vielleicht war ja bald wieder
eine Stelle zu besetzen. Dennoch waren noch einige Anrufe zu erledigen.
Aber Isabel konnte an nichts anderes denken als an die Bilder der letzten Tage. Vor allem Carlos spukte ihr im Kopf herum.
Sie hätte am liebsten die Augen geschlossen, um sich im Krankenhaus an seiner Seite wiederzufinden. Doch sie riss sich zusammen.
Was hatte Hugo noch gleich aus der Schublade geholt? Ein schwarzes Notizbuch mit Goldrand. Sie fühlte sich an ein Adressbuch
aus einem Mafiafilm erinnert, in dem der Bösewicht die Namen seiner besten Kunden notierte. Es lag auf der Hand, dass Hugo
sich – vielleicht zum ersten Mal in seinem geruhsamen Leben – in einer ausweglosen Situation sah. Aber sie würde ihm helfen.
Sonst würde das Chaos immer größer werden und womöglich auch sie beide erfassen.
Ein schrilles Piepen rief Isabel in die Wirklichkeit zurück. Sie sah auf die Uhr. Sie hatte schon befürchtet, eingeschlafen
zu sein. Aber es waren erst wenige Minuten vergangen, seit Hugo gegangen war. Abermals piepte es in ihrer Aktentasche. Isabel
gähnte und kramte ihr Handy hervor. Auf dem Display war eine Nummer mit Madrider Vorwahl angezeigt, die Isabel jedoch nicht
kannte. Als sie abhob, hörte sie erst ein lautes Rattern und dann vorbeifahrende Autos. Der Anrufer stand offenbar auf der
Straße, wahrscheinlich in einer Telefonzelle. Bevor Isabel etwas sagen konnte, hörte sie schon die Stimme am anderen Ende
der Leitung.
»Hallo? Wer spricht da?« Es war eine männliche Stimme, die sie mit Sicherheit noch nie gehört hatte. »Hallo?«
Isabel war perplex.
»Das werden Sie doch wohl wissen. Sie haben schließlich angerufen.« Sie war entschlossen, sich in diesem Spiel nicht die Regeln
diktieren zu lassen.
»Deine Stimme kommt mir aber nicht gerade bekannt vor«, sagte der Anrufer, dessen Stimme brüchig, fast rau klang. »Na ja,
macht nichts. Ist Carlos da?«
Die Frage traf Isabel wie ein Schlag. Da wollte sich wohl jemand einen Scherz mit ihr erlauben.
»Was wollen Sie«, sagte Isabel weniger wütend als mitleidig. Sie wartete die Antwort gar nicht erst ab, sondern legte einfach
auf. Wer tat denn so etwas? Wer rief sie an, um nach einem Mann zu fragen, der mit
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