Der 26. Stock
überhaupt abgeschickt? Isabel kam ein seltsamer Gedanke. Vielleicht hatte Carlos
schon gewusst, dass ihm etwas zustoßen würde. Vielleicht hatte er bemerkt, dass jemand hinter ihm her war, oder er war bedroht
worden, und so hatte er eben beschlossen, ihr dieses Päckchen zu schicken, was auch immer es enthalten mochte. Sein Freund
war nur der Bote, die Sendung war für sie bestimmt. Isabel runzelte die Stirn. Es war noch eine ganze Stunde bis zur Mittagspause,
aber ihre Neugier steigerte sich von Sekunde zu Sekunde. Siemusste sofort ins Krankenhaus fahren und herausfinden, was das kleine Päckchen enthielt. Vielleicht lag hier eine Antwort,
ja, ganz sicher, Carlos würde den Schuldigen benennen. Oder vielleicht war es doch etwas anderes. Jedenfalls musste sie so
schnell wie möglich in Erfahrung bringen, was Sache war. Sie stand auf und lauschte an der Tür zum Nebenbüro. Man hörte nur
das Klappern mehrerer Tastaturen. Ihre Mitarbeiter waren beschäftigt und würden sie nicht vermissen. Isabel warf einen Blick
auf den Korridor hinaus. Keine Menschenseele. Sie überlegte, einen Zettel zu hinterlassen, falls doch einer ihrer Mitarbeiter
zu ihr ins Büro kam, doch dann entschied sie sich dagegen. Sie nahm Arbeitstasche und Mantel, fuhr mit dem Aufzug ins Erdgeschoss
und passierte eines der Drehkreuze.
In diesem Moment blinkte auf einer Schaltfläche in einer der oberen Etagen des Büroturms ein Lämpchen auf und informierte
die Zentrale über ihr Verlassen des Gebäudes.
Am Krankenhaus angekommen, ging Isabel auf eine der Drehtüren am Eingang zu. Der Weg wurde allmählich zur Routine. Sie nahm
den Aufzug und blieb am Empfang von Carlos’ Etage stehen.
Isabel konnte sich nicht erinnern, die junge Frau schon einmal gesehen zu haben, die ihr das Besucherregister über den Tresen
schob, ohne sie eines Blickes zu würdigen.
Isabel hinterließ ihren Namen und ging in Richtung von Carlos’ Zimmer davon. Gerade als Isabel eintreten wollte, kam ihr eine
Krankenschwester entgegen, die sie schon kannte.
»Es gibt gute Nachrichten«, sagte die Schwester. »Die Ärztin meint, dass er sich recht schnell erholt. Er hat eine sehr gute
Konstitution, das habe ich dem Freund auch schon gesagt.«
Isabel sah durch die offene Tür hindurch den Mann, der bei ihrer ersten Begegnung im »Lennon« hinter dem Tresen gestanden
hatte. Jetzt saß er in einem der Sessel. Isabel trat ein. Zac stand auf, als er sie sah, und reichte ihr die Hand. Auf seinem
schwarzen T-Shirt grinste ein flammenumkränzter Totenkopf. Sein Gesichtjedoch war ernst, viel ernster, als Isabel es aus dem Halbdunkel seiner Bar in Erinnerung hatte.
»Du bist Isabel, nicht wahr?«
»Ja.«
Sie gaben sich die Hand.
»Die Krankenschwester hat gesagt, dass es ihm bald besser gehen wird. Aber die Sache gefällt mir überhaupt nicht.«
Isabel zog den Mantel aus und trat an Carlos’ Bett. Er war zugedeckt; der frische Duft der Laken mischte sich mit dem seiner
Haut. Ohne zu überlegen nahm sie seine Hand. Was Zac denken mochte, spielte keine Rolle.
»Er wird bald aufwachen«, sagte Isabel und strich über Carlos’ weiche Hand. »Er hat eine schwere Gehirnerschütterung, aber
sonst keine schlimmen Verletzungen. Ich glaube, wir brauchen uns keine Sorgen zu machen.«
»Ja, aber es gibt andere Dinge, die mir Sorgen bereiten.«
Isabel rückte den Sessel ans Bett und nahm Platz. Zac tat es ihr gleich.
»Und zwar?«, fragte Isabel. Sie hatte unwillkürlich die Stimme gesenkt, als wollte sie vermeiden, dass Carlos etwas mitbekam.
»Carlos ist einer meiner wenigen engen Freunde, und ich möchte wissen, wer ihm das angetan hat. Ich habe dich vorhin am Telefon
schon gefragt. Weißt du, wer das war?«
»Nein«, erwiderte Isabel. »Die Polizei meint, es sei vielleicht eine Jugendbande gewesen oder ein Raubüberfall.«
»Das kann ich mir nicht vorstellen, aber wenn doch, dann werde ich es heute noch herausfinden.«
»Wie soll das gehen?«, fragte Isabel.
Zac stand auf und trat ans Fenster.
»Ich weiß nicht, ob Carlos das mal erwähnt hat, aber wir sind schon seit einigen Jahren befreundet – damals lebten seine Eltern
noch –, und ich werde diese Freundschaft nicht einfach aufgeben.«
Zac hörte sich an, als spräche er mit dem Täter.
Isabel drehte sich in ihrem Sessel um, ohne Carlos’ Hand loszulassen.Es war tröstlich, dass sich noch ein Freund um ihn kümmerte, aber sie wusste nicht genau, ob sie diesem Zac
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