Der 26. Stock
wirklich vertrauen
durfte. Hugo hatte sie gewarnt: Sie musste wachsam bleiben. Doch gleichzeitig drängte es sie, alles an Zac weiterzugeben,
was sie wusste.
»Woher kennt ihr euch eigentlich?«, fragte sie.
Zac lächelte und sah ihr in die Augen. Einen Moment lang dachte Isabel, er könnte Gedanken lesen, und das beunruhigte sie.
»Wir haben uns kennengelernt, als er noch an der Uni war und ich in der Cafeteria gegenüber der juristischen Fakultät, im
Philosophikum jobbte. Carlos aß dort häufig zu Mittag. Er sagte, unter seinen eigenen Kommilitonen würde er sich nicht so
wohl fühlen. Die waren ihm zu beschränkt, Upperclass-Typen oder solche, die es unbedingt werden wollten. Mit der Zeit freundeten
wir uns an. Über ihn habe ich dann einen Job in der Firma seines Vaters bekommen. Als seine Eltern starben, wohnte ich schon
mit meiner Freundin zusammen, und wir haben ihn für eine Weile bei uns aufgenommen. Einige Zeit später hat er die Stelle in
eurem Unternehmen angetreten. Vor kurzem hat er sich aufgerafft und die Wohnung seiner Eltern ausgeräumt, und jetzt wohnt
er in seinem kleinen Apartment. Ich kenne ihn wirklich ganz gut. Und er weiß Geschichten von mir, die meine Frau noch nie
gehört hat. Weißt du, ich bin noch keinem Menschen begegnet, der … der ihn nicht gemocht hätte. Carlos hatte keine Feinde oder offene Rechnungen. Er ist ein absolut gutmütiger Typ. Manchmal
sogar ein bisschen zu viel. Ich weiß nicht, was da passiert sein kann, aber ich werde es bald herausfinden.«
»Was ist denn mit seinen Eltern passiert?«, fragte Isabel und dachte daran, wie überrascht sie gewesen war, als der Polizist
ihr gesagt hatte, die beiden seien nicht mehr am Leben.
»Hat Carlos dir das nicht erzählt?«, erwiderte Zac. »Dann sollte ich das wohl auch nicht machen. Obwohl …«
»Obwohl was?«
»Na ja, ich schätze, wenn du hier bist, dann, weil dir Carlos etwas bedeutet …« Zac machte eine Pause und fuhr sich über dieStirn, bevor er weitersprach. »Carlos’ Vater hat Selbstmord begangen. Und seine Mutter, also, bei ihr ist nicht ganz klar,
ob sie sich ebenfalls umgebracht hat oder ob es ein Unfall war. Das war, bevor ihr euch kennengelernt habt, noch bevor er
die neue Stelle bekommen hat. Sein Vater war Unternehmer, das weißt du ja schon. Die Firma hieß Recambios Taide. Ich weiß
nicht, ob du dich an den Namen erinnerst, das Firmenlogo hatte einen Stern mit einem T darin. Carlos’ Mutter hieß Taide.«
Isabel nickte. Sie hatte davon gehört, dass die Firma in die Insolvenz gegangen war.
»Jedenfalls ging die Firma pleite«, fuhr Zac fort, »und von einem Tag auf den anderen standen die Arbeiter auf der Straße,
die Gläubiger teilten sich den Firmenbesitz auf und die Manager gingen in den Knast. Und da wäre auch Carlos’ Vater gelandet,
wenn er nicht in der Nacht, bevor alles aufflog, in eine Walzmaschine gesprungen wäre. Als die Polizei vor der ersten Schicht
aufs Firmengelände kam, um die Akten zu beschlagnahmen, fanden sie einen Abschiedsbrief und die Leiche, die in der Gerichtsmedizin
nur unter großem Aufwand identifiziert werden konnte. Tatsache ist, Carlos hat nie glauben wollen, dass sein Vater sich umgebracht
hat. Ich habe auch lange daran gezweifelt. Ich habe Señor Visotti als intelligenten, sehr vitalen und tatkräftigen Mann kennengelernt,
der die Firma praktisch aus dem Nichts aufgebaut hat. Aber gut, er stand eben mit dem Rücken zur Wand.«
»Und seine Mutter?«, fragte Isabel.
»Seine Mutter … die Arme. Bei ihr war es noch seltsamer. Sie hat ihren Mann sehr geliebt. Carlos hat versucht, seine Mutter zu stützen und
aufzumuntern, aber es ging ihm selbst ziemlich schlecht. Seine Mutter hat nichts mehr gegessen und immer mehr Beruhigungsmittel
geschluckt. Eines Nachts ist sie mit dem Auto losgefahren und in eine Schlucht gestürzt. Ich denke, sie wollte ihrem Leben
ein Ende machen, wie ihr Mann. Das Ganze war ein schrecklicher Schlag für ihn. Als er sich davon erholt hatte, boten ihm die
wenigen Freunde, die das Andenken seinesVaters hochhielten, den einen oder anderen Job an, aber er wurde erst wieder froh, als er die Stelle in eurem Konzern angetreten
hat. Ich schätze, er ist in mancher Hinsicht seinem Vater sehr ähnlich.«
Isabel blickte zu der Hand hinab, die sie noch immer hielt. Nie hätte sie sich vorstellen können, dass jemand, der so oft
lächelte wie Carlos, eine solche Tragödie durchlebt
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