Der 26. Stock
durch
den Kopf gegangen: Warum hatte er ihr den Inhalt des Päckchens nicht persönlich übergeben?
Es war, als hätte Carlos geahnt, dass ihm etwas zustoßen könnte, und offenbar hatte er gewollt, dass Isabel nur in dem Fall
herausfand, was hinter dem Schlüssel steckte. Sie war sich freilich nicht sicher, ob sie es auch wissen wollte. Isabel ging
zu ihrem Mantel und holte den kleinen Umschlag heraus, den Zac ihr im Krankenhaus übergeben hatte. Sie entnahm ihm den Zettel
mit der Adresse und setzte sich vor den Computer. Als Erstes musste sie herausfinden, wo diese Straße lag. Wenn sie nicht
allzu weit weg war, würde sie direkt nach der Arbeit hinfahren. Sie gab die Adresse ein: Calle del Olvido 64. Nach einigen Sekundenerschien ein kleiner Ausschnitt des Stadtplans voller Straßen, deren Namen ihr nichts sagten. Die Straße befand sich in einem
Vorort im Süden von Madrid. Isabel lehnte sich zurück und betrachtete nachdenklich den Bildschirm. Wenn es dort ein Postamt
gab, warum hatte Carlos eines gewählt, das so weit weg lag?
Isabel machte eine Sicherungskopie ihrer Arbeit vom Nachmittag. Ausdrucken konnte sie die Berichte morgen. Jetzt hatte sie
Wichtigeres zu erledigen. Sie stand auf und öffnete die Tür zum Nebenzimmer.
»Isa!« Pablo sah hinter seinem Bildschirm auf. »Wir sind schon fast fertig.«
»Okay, ihr könnt für heute Schluss machen. Es ist gleich Feierabend. Ich möchte nicht, dass ihr mich als Sklaventreiberin
seht.«
Beatriz runzelte die Stirn.
»Na ja, du hattest anderes zu tun, oder? Macht doch nichts, wenn du uns mal ein bisschen mehr arbeiten lässt. Vor allem den
da drüben, der macht ja sonst keinen Finger krumm.«
»Nerv mich nicht!«, brummte Jorge.
»Na, na, na«, sagte Bea. »Ich hab nur ›den da drüben‹ gesagt. Warum fühlst du dich gleich angesprochen?«
Jorge hörte auf zu tippen und kam mit ausgestreckten Armen und einer wilden Grimasse auf sie zu, als wollte er sie erwürgen.
Sie lachten. Isabel freute sich, dass ihre Mitarbeiter sich so gut verstanden. Selbst nach einem harten Tag herrschte noch
gute Stimmung.
»Wirklich, ihr könnt für heute aufhören. Ich gehe mir eine Cola holen, will noch jemand etwas?«
Zwei Minuten später kam Isabel mit ein paar kalten Getränken und einer Flasche Mineralwasser zurück. Sie setzte sich zu Bea
an den Tisch und nahm einen Schluck von ihrer Cola.
»Ha«, rief Bea, »du willst uns doch nur vom Arbeiten abhalten, damit wir nicht befördert werden wie Luna. Sonst bleibst du
am Ende ganz alleine hier.«
Isabel setzte ein beleidigtes Gesicht auf. Auf einmal wurde ihrklar, dass sie seit Lunas Abschied gar nichts mehr von ihr gehört hatte.
»Wisst ihr eigentlich was von ihr?«
»Klar, sie ist im 26. Stock«, antwortete Beatriz.
Isabel pfiff überrascht durch die Zähne. Das war schon sehr weit oben. Nur wenige Stockwerke unterhalb des Vorstands, der
auf der obersten Etage angesiedelt war.
»Heute früh«, fuhr Beatriz fort, »hat sie angerufen, um uns unter die Nase zu reiben, wie erfolgreich sie ist. Anscheinend
hat sie eine irre Gehaltserhöhung bekommen. Aber sie ist immer noch Single, so viel Glück hat sie also auch wieder nicht.
Luna hat gesagt, sie kommt uns bald mal besuchen. Jetzt trage ich die ganze Woche meinen besten Schmuck, nicht dass sie glaubt,
sie sei die Einzige, die es dicke hat.«
»Meinst du mit dem besten Schmuck etwa die Anhänger aus der Cornflakes-Packung?«, stichelte Pablo, woraufhin Beatriz versuchte,
einen Papierkorb über seinem Kopf auszuleeren. Nach einer Weile kehrte Isabel in ihr Büro zurück und packte zusammen. Normalerweise
ging sie als Letzte, nicht ohne vorher überprüft zu haben, dass alle Lichter ausgeschaltet und die Büros aufgeräumt waren,
aber heute war ihre Neugier einfach zu groß. Trotzdem kritzelte sie noch schnell eine Nachricht für Teo auf den nächstbesten
Zettel und legte ihn auf den Tisch. Dann nahm sie ihre Sachen und fuhr mit dem Aufzug in die Tiefgarage.
Während sie ihren alten Ford Richtung Süden lenkte, dachte sie, dass es ihren Mitarbeitern offenbar gut ging. Anscheinend
war ihnen in den letzten Tagen nichts aufgefallen, außer vielleicht, dass sie, Isabel, anderes im Sinn hatte als die tägliche
Arbeit. »Wenn du einen neuen Freund hast, kannst du’s uns ruhig sagen«, hatte Beatriz sich vorgewagt. Wenigstens hatten sie
keine weiteren Erklärungen von ihr verlangt. Sie hätte keine Antwort
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