Der 26. Stock
archaisch anmutenden Lehmbau, der wesentlich älter war als die anderen Häuser. Als einziges schmückendes Detail
hatte das Haus im oberen Stockwerk einen kleinen Balkon mit gusseisernem Geländer. Einige Meter neben der Metalltür gab es
eine schmalere, von der Feuchtigkeit geschwärzte Holztür. Jemand hatte dort einen gelblichen Zettel angeheftet, auf dem handschriftlich
die Gottesdienstzeiten vermerkt waren. Isabel war verwirrt. Sollte das die Kapelle sein, von der der Wirt gesprochen hatte?
An der Metalltür war kein Klingelknopf, nur eine golden gestrichene Leiste und darunter, wo früher einmal ein Türklopfer gewesen
sein musste, ein Guckloch.
Isabel klopfte und wartete. Nach ein, zwei Minuten versuchte sie es noch einmal. Keine Antwort. Alles deutete darauf hin,
dass niemand da war. Die Vorstellung, das Büro frühzeitig verlassen und die halbe Stadt durchquert zu haben, nur um dann vor
verschlossenen Türen, vor einem leeren Haus zu stehen, verdross Isabel. Sie klopfte ein drittes Mal, wiederum vergeblich.
Auf einmal hörte sie ein schleifendes Geräusch, vielleicht von einem Möbelstück, das verschoben wurde. In der Erwartung, nun
eingelassen zu werden, trat Isabel von der Tür zurück, doch nichts geschah. Sie hatte die unangenehme Gewissheit, dass jemand
sie durch den Spion hindurch beobachtete.
»Hallo? Hallo, würden Sie bitte aufmachen? Mein Name ist Isabel Alvarado, und ich … ich würde mich gerne kurz mit Ihnen unterhalten.«
Als Antwort kam nur Stille. Isabel trat noch einmal vor und klopfte an die Tür. Es war sinnlos. Plötzlich hörte sie ein Geräusch
wie von kleinen Rädern und drehte sich um. An der nächsten Querstraße stand ein Mädchen auf einem Tretroller, der fast größerals die Kleine selbst war, und stieß sich mühsam ab. Ihre Haut war dunkel, und sie bewegte die Lippen, als sänge sie beim
Fahren ein Lied. Als sie bei Isabel ankam, hielt sie inne und musterte sie von oben bis unten.
»Hallo«, sagte Isabel, »wer bist du denn?«
Die Kleine hörte mit ihrem Singsang auf und zögerte. Anscheinend konnte sie sich nicht recht zu einer Antwort durchringen.
Sie besah sich die unbekannte Frau genau, offenbar um sicherzugehen, dass keine Gefahr von ihr ausging.
»Yair«, sagte sie schließlich. »Ich heiße Yair. Und du?«
»Ich heiße Isabel. Kann ich dich was fragen?«
Die Kleine zuckte mit den Schultern.
»Weißt du, wer hier wohnt?«
Das Mädchen nickte.
»Und wer?«, hakte Isabel nach. Ihr Puls ging schneller.
»Die Verrückte.«
Die Antwort verschlug Isabel für einen kurzen Moment den Atem.
»Wer ist denn die Verrückte?«
»Eine Verrückte eben«, gab das Mädchen zurück und stellte sich wieder auf den Tretroller, als verstünde sich diese Antwort
von selbst.
»Halt mal, Yair, sag mir doch noch, wer diese verrückte Frau ist.«
»Nein«, sagte die Kleine kopfschüttelnd. »Wenn ich zu spät heimkomme, schimpft mich meine Mama, und außerdem soll ich nicht
mit fremden Leuten reden. Aber das ist gar keine Frau.«
»Sondern …?«
Bevor Isabel weiterfragen konnte, stieß die Kleine den Roller an und fuhr los, haarscharf an Isabel vorbei. An der nächsten
Straßenecke bog sie ab und war nicht mehr zu sehen.
Isabel warf einen Blick auf die Tür. Wer auch immer dahinter gestanden haben mochte, schien sich wieder entfernt zu haben.
Isabel fühlte sich jedenfalls nicht mehr beobachtet. Sie klopfte ein letztes Mal, aber nichts geschah. Schließlich machte
sie sichauf den Rückweg. Als sie an der Bar vorbeikam, schwanden ihre letzten Hoffnungen, noch etwas über die »Verrückte« herauszufinden:
Ein Metallgitter vor der Tür zeigte, dass das Lokal geschlossen war. Nun, so schnell würde sie nicht aufgeben, aber für den
Augenblick konnte sie wohl nichts weiter unternehmen. Sie würde im Internet oder mithilfe der Datenbanken, die ihr in der
Firma zur Verfügung standen, herausfinden, wer in dem Haus wohnte. Vielleicht konnte sie auch am nächsten Tag zurückkommen,
und die seltsame Frau machte ihr doch noch auf. Jetzt war es allerdings Zeit, nach Hause zu fahren. Es war ein anstrengender
Tag gewesen, und sie fühlte sich wie gerädert.
18
Das Mondlicht verblasste gegen die starken Scheinwerfer, die strategisch um das Gebäude verteilt waren. Gerade wurde eine Metallschranke hochgefahren,
und der erste der Kleinbusse mit dem Logo des Reinigungsunternehmens tauchte in das Halogenmeer ein. Teo presste die Nase
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