Der 26. Stock
ihre halb vom Haar verdeckten Lippen bewegten sich weiter, als wären sie nicht richtig
synchronisiert. Teo hatte Angst, aber er spürte auch, wie ihn von Kopf bis Fuß eine merkwürdige, wohltuende Wärme durchströmte.
»Wer bist du?«, fragte Teo und beobachtete, wie auch sein Spiegelbild die Frage stellte.
Die Frau antwortete nicht. Sie hob den Blick, als hätte etwas hinter Teo ihre Aufmerksamkeit erregt. Er drehte sich zur Tür
um. Nichts hatte sich verändert. Plötzlich hörte er den Klingelton, der anzeigte, dass die Tür sich gleich öffnen würde.
»Komm«, sagte die Frau und streckte die Hand aus. »Komm her, Teo. Komm schon.«
Er zögerte. Etwas zog ihn zu der Hand hin, die immer näher kam. Er drehte sich wieder um und machte einen langsamen Schritt
auf den Spiegel zu.
»Komm, Teo, komm.« Die Stimme war ein melodischer Singsang. Die Frau bewegte sich auf eine Seite des Spiegels zu, und Teo
folgte ihr. Sie sah zwischen ihm und der Türe hin und her, als erwartete sie, dass gleich etwas passieren würde. »Teo, lass
uns gehen …«
Sie berührte das Glas und betrachtete Teo in angstvoller Erwartung. Er wollte sich erneut zur Tür umdrehen, aber die Kraft,
die von ihr ausging, zog ihn unwiderstehlich an.
»Komm zu mir, Teo …« Er erreichte den Spiegel. Als seine Wange schon fast das Glas berührte, hörte er hinter sich die Tür aufgehen. »Komm!«
Auf einmal schien die Frau sich auf ihn zu stürzen. Teo wollte zurückweichen, doch die bleiche Hand drang durch den Spiegel
und packte ihn am Overall. Ein durchdringender Geruch nach Verwesung schlug Teo entgegen. Entsetzt starrte er auf die Hand,
die ihn umklammert hielt. Das war nicht die Hand, die er gerade im Spiegel gesehen hatte. Das war eine dünne, weiße Hand,
glatt wie Elfenbein. Teo schrie auf und sah der Frau ins Gesicht. Die Türen öffneten sich, und ein eisiger Windstoß traf seinen
Rücken. Das Haar der Frau, die ihn durchs Glas hindurch ansah, wurde hochgeweht, und die verborgene Gesichtshälfte wurde sichtbar.
Auch sie war weiß, weiß und leer. Da war kein Auge, keine Wange, kein Leben, nur ein paar Striche im Schatten der Haare.
»Mach die Augen zu!«, rief die Frau.
Teo gehorchte. Er hörte auf zu schreien und kniff in der Hoffnung, dass die Frau ihn nun loslassen würde, die Augen zusammen.
Und da hörte er es. Etwas näherte sich dem Aufzug. Er spürte einen eisigen Atem im Nacken. Ein kehliger Laut erfüllte die
kleine Kabine und drang in Teos Ohren. Dann folgten spitze Schreie, wie ein Hilferuf aus tausend Mündern.
»Lass ihn!«, rief die Frau. »Lass ihn und verschwinde! Er ist unschuldig!«
Teo spürte, wie ihm das Atmen immer schwerer fiel. Der unerträgliche Gestank der Hand, die spitzen Schreie und seine eigene
Angst raubten ihm die Kräfte. Er ließ sich fallen, doch die Hand hielt ihn fest und zog ihn gegen das Glas.
»Verschwinde! Fort mit dir!« Die Frau gab nun ebensolche Schreie von sich, wie sie in den Aufzug drangen. Die Hand schloss
sich noch fester um seinen Overall und drückte ihm fast die Luft ab. »Hau ab!«
Das war das Letzte, was er hören konnte. Im nächsten Augenblick schwanden ihm die Sinne, und er spürte, wie seine blutige
Wange den Spiegel hinabrutschte und dann weiter über das kalte Metall der Wand. Er fiel und fiel, dann spürte er gar nichts
mehr. Nach einer Ewigkeit weckte ihn ein lauter Klingelton. Teo schlug die Augen auf. Die Aufzugtür hatte sich soeben geöffnet.
Mit Mühe kam er auf die Füße und schleppte sich hinaus. Er war furchtbar verwirrt. Er wollte seine Schwester sehen, das brauchte
er jetzt am dringendsten. Als er sich umsah, entdeckte er eine vertraute Umgebung: die Schreibtische, die PCs, die Gänge,
die in verschiedene Büros führten … Er war in seinem Stockwerk, auf der Etage, die er schon so lange putzte und wo auch seine Schwester arbeitete. Teo ging
zu einem der Schreibtische und ließ sich in den Sessel sinken. Er war erschöpft und hatte Schmerzen. Er sah seine Hände an,
auf denen das Blut getrocknet war. Wieder hätte er am liebsten geweint, aber er musste jetzt jemanden finden, der ihm helfen
würde. Mühsam raffte er sich auf und ging den Korridor hinunter. Aus einem der Büros hörte er Geräusche. Er ging auf den Raum
zu und stützte sich schwer gegen den Türrahmen.
»Um Himmels willen, Teo!« Dolores ließ den Putzlappen fallen und lief ihm entgegen. »Was ist denn mit dir passiert, mein
Weitere Kostenlose Bücher