Der 26. Stock
Schatz?«
Teo hatte nicht die Kraft, ihr eine zusammenhängende Antwort zu geben. Er versuchte zu sprechen, doch die Wörter stauten sich
auf seiner Zunge und er brachte nur ein Stammeln heraus. Die Aufzugtür öffnete sich. Mr O’Reilly kam heraus und rief Teos
Namen.
»Hier, hier sind wir!«, schrie Dolores in dem Moment, also Teo in sich zusammensackte.
Mr O’Reilly und zwei weitere Kollegen kamen mit besorgten Gesichtern auf sie zu. Als er Teo am Boden kauern sah, bat O’Reilly
seine Männer sofort, Wasser und Verbandszeug zu holen.
»Was ist denn passiert, Junge?«, fragte er und beugte sich zu Teo hinunter. »Als der Aufzug unten war, haben wir Blutflecken
gesehen. Was ist los, hast du dich am Spiegel gestoßen?«
Teo schüttelte energisch den Kopf.
»Da war eine Frau«, fing er an. Er spürte den salzigen Geschmack seiner eigenen Tränen im Mund. »Eine Frau im Spiegel.«
Irritiert sah O’Reilly Dolores an, die mit den Schultern zuckte.
»Ich habe hier geputzt, und da ist er reingekommen, so wie Sie ihn sehen«, erklärte sie.
O’Reilly legte Teo eine Hand auf die Schulter und sah ihn an.
»Teo, was ist das für eine Geschichte? Was für eine Frau war das?«
»Ich … Ich weiß nicht«, stammelte Teo. Am liebsten hätte er sich in eine Ecke verkrochen und weitergeweint, aber allmählich ließ
dieser Wunsch nach. Er musste ihnen alles erzählen, damit anderen Kollegen nicht das Gleiche passierte. Die Worte kamen ihm
nun wieder leichter über die Lippen, auch wenn er nicht sicher war, ob er alles klar genug ausdrücken konnte. Er holte Luft.
»Der Lift … der ist nicht auf meinem Stockwerk stehen geblieben, der ist einfach weitergefahren. Als er dann gehalten hat, war das Licht
plötzlich aus, und da ist im Spiegel eine Frau aufgetaucht, eine blonde Frau, aber geblutet hab ich schon vorher, weil der
Aufzug so geruckelt hat, und da bin ich gegen die Wand gestoßen. Und dann hat mir die Frau gesagt, ich soll aufpassen und
ich soll die Augen zumachen, und sie hat mich festgehalten und hat mit jemand geredet, dass er mir nichts tut, und …«
Teos Stimme wurde immer leiser, bis sie kaum mehr zu hören war. Mr O’Reilly sah ihn ernst an. Schon lange hatte Teo diesen
Blick nicht mehr gesehen, seit damals in der Schule, und was er darin las, gefiel ihm nicht.
»Teo«, begann O’Reilly, während er sich aufrichtete, »sicher bist du gegen die Wand gestoßen und hast das Bewusstsein verloren.
Keine Sorge, Junge, das mit der Frau war bestimmt nur ein Traum.«
Teo riss die Augen auf. Er suchte bei Dolores Halt und zog sich hoch, Wut kochte in ihm hoch. Das war kein Traum!
»Die Frau hat mit mir geredet, ganz sicher. Es stimmt, sie war da im Spiegel.« Teo wurde immer lauter. »Ich hab sie gesehen!
Sie war da!«
Dolores fasste ihn bei der Hand und versuchte, ihn zu beruhigen.
»Junge«, sagte O’Reilly, »einer der Männer unten in der Warteschlange hat gleich wieder den Aufzug gerufen. Du warst nur ein
paar Minuten lang unterwegs. Ungefähr so lang, wie es dauert, hier hochzufahren.«
Teo brach vor Hilflosigkeit in Tränen aus. Die Wut war immer noch da, aber er wusste nicht, wie er seinen Chef davon überzeugen
konnte, dass er die Wahrheit sagte. Dolores nahm Teo in den Arm.
»Er glaubt, dass ich lüge«, schluchzte Teo und schmiegte sich an die Frau.
»Ich rufe einen Arzt«, sagte O’Reilly peinlich berührt. »Dolores, wenn es Ihnen nichts ausmacht, bleiben Sie mit dem Jungen
hier und …«
O’Reilly machte eine vage Geste. Offenbar wusste er nicht weiter. Dolores nickte nur. Sie wusste, was er meinte. Sie würde
aufpassen, dass Teo den anderen Kollegen nicht von dieser mysteriösen Frauengestalt erzählte.
Eine Viertelstunde später drückten Dolores und O’Reilly feuchte Mullbinden auf die beiden Wunden, die Teo am Kopf davongetragen
hatte. Er wollte nicht, dass ein Arzt gerufen wurde, er wollte so schnell wie möglich nach Hause. Aber O’Reilly wollte das
Risiko nicht eingehen, dass Teo drei Tage später plötzlich Kopfschmerzen bekam und an einer Hirnblutung starb. EinigeKollegen, die von dem Vorfall gehört hatten, kamen vorbei, um nach Teo zu sehen, bis der Chef sie aufforderte, sich wieder
ihrer Arbeit zuzuwenden. Bevor der Arzt eintraf, versuchte Teo noch ein paarmal, zu erklären, was vorgefallen war, doch jedes
Mal bat Dolores ihn, still zu sein, die Augen zu schließen und sich auszuruhen, sehr zum Verdruss der
Weitere Kostenlose Bücher