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Der 26. Stock

Titel: Der 26. Stock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrique Cortés
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eine Ohrfeige verpassen zu wollen, doch dann trat er beiseite und ließ den Arzt vorbei, der ruhig den Hörer auf die Gabel
     legte und Cassandra ansah. Dabei schüttelte er den Kopf und bewegte die Lippen. Sie wusste nicht, ob er mit dem Pfleger sprach
     oder mit ihr. Verstehen konnte sie ihn nicht. Das aggressive Verhalten des Pflegers und ihre eigene Anspannung ließen sie
     zittern. Sie schloss die Augen und taumelte, spürte, wie sie langsam zusammensackte, aber gehalten wurde. Dann wurde sie hochgehoben,
     und dann nahm sie nichts mehr wahr.
     
    Als sie die Augen aufschlug, sah sie über sich eine strahlend weiße Decke. Als Nächstes kam das Gesicht einer Frau in ihr
     Blickfeld. Etwas Feuchtes wurde ihr an die Schläfen gedrückt. Nach wenigen Minuten ging die Frau wieder, und an ihre Stelle
     trat ein bekanntes Gesicht. Der Arzt war wieder da. Er musterte sie einige Sekunden lang mit einem beruhigenden Lächeln, dann
     zeigte er ihr eine Seite aus dem Notizbuch. Er schien über den Vorfall mit dem Telefon nicht verärgert zu sein. Cassandra
     sah auf die Buchstaben, die ihr zunächst vor den Augen verschwammen, doch schließlich gelang es ihr, zu lesen.
     
    Wir haben Ihren Verband gewechselt. Fühlen Sie sich kräftig genug, um aufzustehen?
     
    Cassandra nickte, obwohl sie sich nicht ganz sicher war. Der Arzt blätterte um und schrieb noch etwas auf.
     
    Sie werden jetzt abgeholt.
     
    Cassandra verstand nicht, was das heißen sollte, doch seinem Blick nach erwartete er wohl, dass sie aufstand. Mühsam kam sie
     auf die Füße. Sie stand in einem Saal, der mit mehreren Krankenhausbetten samt Tropf ausgestattet war. Neben ihr trug eineKrankenschwester gerade einen blutgetränkten Verband weg. Das musste ihr Blut sein. Der Arzt wartete, während der Krankenpfleger
     neben sie trat und am Arm fasste. Dann begleiteten die beiden sie langsam bis vor ein kleines Zimmer.
    Der Arzt deutete auf ein paar Kleidungsstücke, die über einem Stuhl hingen. Cassandra verstand. Sie schloss die Tür, legte
     den weißen Pyjama ab und begann sich anzukleiden. Ihre Muskeln folgten nur zögerlich den Befehlen, aber es ging ihr nicht
     so schlecht, dass sie befürchtet hätte, ohnmächtig zu werden. Zweifellos hatte man ihr noch ein Schmerzmittel verabreicht.
     Hose und Bluse passten erstaunlich genau. Sie erkannte das Paar Schuhe wieder. Es gehörte ihr – das waren dieselben Schuhe,
     die sie an dem Abend im Hotel getragen hatte. Was war wohl mit den übrigen Kleidungsstücken geschehen? In einer Tüte, die
     neben dem Stuhl stand, befanden sich ihre persönlichen Gegenstände: der Schlüsselbund, die Handtasche, das Handy   …
    Als sie fertig war, verließ sie das Zimmer, und der Arzt und der Pfleger brachten sie über zahlreiche Korridore zu einer Metalltür,
     auf der in goldenen Lettern ein Name prangte. Sie betraten ein Büro, einen eleganten, lichtdurchfluteten Raum voller Bücherregale,
     dessen Wände von mehreren Diplomen geschmückt wurden. Der Arzt ging voraus und nahm in dem Chefsessel hinter dem Schreibtisch
     Platz: Offenbar war das hier sein Büro. Aus einem der Stühle mit den hohen Lehnen, die vor dem Schreibtisch standen, erhob
     sich jemand und drehte sich zu ihr um. Ihr stockte der Atem. Jemand war gekommen, um sie abzuholen. Ihr Profil zeichnete sich
     vor dem Fenster ab. Cassandra ging auf die Person zu, während sie sah, wie sich deren Lippen bewegten. Aber sie konnte nichts
     hören. Sie brach in Tränen aus.

21
    Isabel kurbelte das Fenster ihres Fords hoch. Es hatte angefangen zu regnen – ein Nieselregen, der sich mit der warmen Abendbrise verbündet hatte.
     Die Scheibenwischer quietschten über die Windschutzscheibe. Wie schon am Vortag hatte Isabel ihr Büro kurz vor Feierabend
     verlassen. Nach den Bewerbungsgesprächen vom Vormittag hatte sie ihre Mitarbeiter gebeten, ihr ein Sandwich aus der Kantine
     mitzubringen. Sie hatte eine Menge zu erledigen. Keiner versuchte, sie in ein Gespräch zu verwickeln. Die Teammitglieder wirkten
     müde und unmotiviert. Isabel hätte ihnen gerne ein paar aufmunternde Worte gesagt, aber ihr fiel nichts ein. Sie hatte einfach
     zu viel anderes im Kopf. Während der Mittagspause nahm sie sich noch einmal die Personalkarten vor und suchte nach Übereinstimmungen,
     sah aber weiterhin nur fünfzehn Unbekannte vor sich, ein jeder mit seinem Lächeln und dem roten Kreuzchen. Vier von ihnen
     hatten in der Buchhaltung gearbeitet, es gab ein paar Informatiker,

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