Der 3. Grad
einsam. Sie fehlte mir mehr denn je.
Ich ging in die Küche und durchstöberte einen Stapel Papiere auf einem alten Schreibpult aus Kiefernholz. Alles war noch genau so, wie sie es zurückgelassen hatte. Eine Notiz für Ingrid, ihre Haushälterin. Ein paar Rechnungen. Jills vertraute Handschrift. Es war beinahe so, als wäre sie noch da.
Dann ging ich nach oben, den Flur entlang in Jills Arbeits zimmer. Hier hatte sie viel Zeit verbracht; es war ihr Refugium gewesen.
Ich setzte mich an ihren Schreibtisch, und ihr Duft stieg mir in die Nase. Jill hatte eine alte Messinglampe. Ich schaltete sie ein. Einige Briefe lagen verstreut auf dem Schreibtisch. Einer war von ihrer Schwester Beth. Dazu ein paar Fotos: Jill mit Steve und Otis in Moab.
Was tust du hier eigentlich, Lindsay?
, fragte ich mich wieder.
Was hoffst du zu finden? Irgendwelche Papiere, unterzeichnet mit »August Spies«? Sei doch nicht so dumm
.
Ich öffnete eine der Schreibtischschubladen. Papiere. Privatkram. Reiseunterlagen, ihr Flugmeilen-Konto.
Ich stand auf und ging zum Bücherregal.
Jenseits des Nordmeers. Die Korrekturen
. Kurzgeschichten von Eudora Welty. Was Bücher betraf, hatte Jill immer schon einen guten Geschmack gehabt. Ich hatte keine Ahnung, woher sie die Zeit dafür hatte. Aber irgendwie hatte sie es hinbekommen.
Ich bückte mich und öffnete einen Schrank unter dem Regal. Dort stieß ich auf Kisten mit alten Fotos. Reisen und Ausflüge, die Hochzeit ihrer Schwester. Manche Alben reichten zurück bis zu Jills College-Abschlussfeier.
Seht sie euch an, unsere Jill:
krauses Haar, spindeldürr, aber stark. Ich musste lächeln, als ich die Bilder betrachtete. Ich setzte mich auf den Hartholzboden und ging sie durch.
Mein Gott, du fehlst mir so
.
Dann entdeckte ich diese alte Fächermappe, fest verschnürt mit Gummiband. Ich öffnete sie. Lauter alter Kram. Ich fand es erstaunlich, was Jill alles aufgehoben hatte. Briefe, Fotos, Zeitungsausschnitte. Ein paar Zeugnisse von der High School. Die Hochzeitseinladung ihrer Eltern.
Ein Fach war ganz mit Zeitungsartikeln voll gestopft. Ich blätterte sie durch. Die meisten betrafen ihren Vater.
Ihr Dad war Staatsanwalt gewesen, sowohl hier als auch zu Hause in Texas. Jill hatte mir erzählt, dass er sie stets seine »kleine zweite Vorsitzende« genannt hatte. Er war erst vor wenigen Monaten gestorben, und es war offensichtlich gewesen, wie sehr er Jill gefehlt hatte. Die meisten Artikel handelten von Fällen, die er bearbeitet hatte, oder von seinen diversen Berufungen und Ernennungen.
Dann fiel mir ein alter, vergilbter Artikel in die Hände. Mit Staunen las ich die Quellenangabe.
San Francisco Examiner
. 17. September 1970.
Die Überschrift lautete: A NKLÄGER I M P ROZESS G EGEN B NABOMBER B ENANNT .
Die Black National Army. Die BNA war eine radikale Gruppierung der Sechzigerjahre. Bekannt für bewaffnete Raubüberfälle und brutale Anschläge.
Ich überflog den Artikel. Als ich den Namen des Staatsanwalts las, überlief es mich eiskalt.
Robert Meyer.
Jills Vater.
85
Eine Stunde später stand ich vor Cindys Tür und klingelte Sturm. Es war halb drei Uhr morgens. Ich hörte, wie der Schlüssel umgedreht wurde, dann ging die Tür einen Spalt breit auf. Cindy stand da in einem langen Forty-Niners-T-Shirt und starrte mich aus trüben Augen an. Ich hatte sie wahrscheinlich aus dem tiefsten Schlaf seit drei Tagen gerissen.
»Du hast hoffentlich einen guten Grund«, sagte sie, während sie die Kette aushängte.
»Einen sehr guten, Cindy.« Ich hielt ihr den alten
Examiner
- Artikel vor die Nase. »Ich glaube, ich habe herausgefunden, was die Verbindung zwischen Jill und diesem Fall ist.«
Fünfzehn Minuten später brausten wir schon in meinem Explorer durch die menschenleeren Straßen der Stadt, auf dem Weg zum Verlagshaus des
Chronicle
an der Ecke Fifth/Mission.
»Ich wusste gar nicht, dass Jills Vater hier gearbeitet hat«, sagte Cindy und gähnte herzhaft.
»Er hat hier angefangen, gleich nach dem Juraexamen, bevor er dann nach Texas zurückgegangen ist. Das war kurz nach Jills Geburt.«
Gegen drei hatten wir Cindys Arbeitsplatz erreicht. Die Beleuchtung in der Nachrichtenredaktion war gedämpft. Wir ertappten ein paar junge Volontäre dabei, wie sie während ihrer Nachtschicht Computer-Bridge spielten, anstatt die Agenturmeldungen im Auge zu behalten.
»Unangekündigte Leistungskontrolle«, sagte Cindy zu ihnen, ohne eine Miene zu verziehen. »Ihr seid gerade durchgefallen,
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