Der 50-50 Killer
du lebst, sagte sie sich. Und Scott auch. Egal, was sonst noch sein mag, wir sind jetzt beide in Sicherheit. Hör auf, dir Sorgen zu machen. Hör auf, dich dafür schuldig zu fühlen, was du getan hast. Wir sind beide am Leben.
Ihr Herz schien nicht mit dem Gefühl der Hochstimmung zu Rande zu kommen, das diese Gedanken auslösten. Sie fühlte sich so zerbrechlich wie ein Vogel. Deshalb hielt sie diese Gedanken unter Kontrolle und konzentrierte sich lieber auf den Weg. Jeder Schritt im tiefen Schnee knirschte, als lehnte sich jemand auf einem Ledersessel zurück. Es war tröstlich, von diesem schrecklichen Ort fortzugehen, einen Fuß vor den anderen zu setzen.
Der Polizist direkt vor ihr leuchtete mit einer Taschenlampe, doch das war fast nicht mehr nötig. Die aufgehende Sonne ließ den Wald ringsum zu stillem grauem Leben erwachen. Auf den Bäumen zwitscherten die Vögel. Es war früher Morgen, ein neuer Tag.
John ging dicht genug hinter ihr, dass sie sich unterhalten konnten. Für Jodie war seine Gegenwart ein ungeheurer Trost. Er sagte immer wieder Dinge, die sie nur halb verstand, die sie aber trotzdem beruhigten. Vielleicht war es albern, aber sie konnte nicht anders, als sich vorzustellen, die Stimme, die sie die ganz Nacht gehört hatte, wäre seine gewesen, voller Güte, Trost und ruhiger Ermutigung. Du wirst es schaffen, hatte er immer wieder gesagt. Halt durch, verlier nicht den Mut. Ich werde dich finden. Und das hatte er auch getan. Als er sie umarmt hatte, hatte sie irgendwie begriffen, dass er sie schon die ganze Nacht suchte. An seinem Gesicht sah sie, dass er ein geplagter und leidgeprüfter Mann war, sich aber geweigert hatte, sich aufhalten zu lassen oder aufzugeben. Jetzt schien er endlich mit sich im Reinen zu sein.
Jodie hörte ein elektronisches Knacken hinter sich und schrak zusammen.
»Mercer.«
Sie blickte zurück und sah, dass John in das Mikrofon an seinem Kopfhörer sprach. Alles in Ordnung. Die drei gingen weiter.
»Mark«, hörte sie ihn sagen. »Beruhigen Sie sich. Er ist tot. Jodie ist in Sicherheit. Sie ist hier bei mir. Wir sind auf dem Weg aus dem Wald.«
Während seine Worte vorher mehr wie ein Geräusch an ihr vorbeigezogen waren, hörte sie diesem Gespräch aufmerksamer zu.
Er schwieg, dann sagte er: »Nein, er ist es auf jeden Fall. Wieso meinen Sie …«
Wieder Schweigen. Einen Fuß vor den anderen setzend, gingen sie weiter. Eine unvernünftige Furcht erfüllte sie. Irgendetwas stimmte nicht. Sie würden sie zwingen, zu jenem Ort zurückzukehren, wo sie doch weitergehen musste. Sie musste zu Scott und ihm sagen, wie leid ihr alles tat …
»Wir haben drei unabhängige Zeugen. Was immer Sie denken, es gibt keine …«
Der Polizist, der vorausging, schaute zurück und blieb dann stehen. Jodies Impuls, weiterzugehen, war so stark, dass sie fast gegen ihn prallte. Doch sie zwang sich, ebenfalls stehenzubleiben, und unterdrückte das beängstigende Gefühl, das dadurch in ihr aufkam. Lauf! Aber John war ein kleines Stück hinter ihnen, stand still und starrte zu Boden. Er lauschte.
Noch ein Knacken, diesmal vom Gerät des Mannes vor ihr. Sie sah ihn die Hand ans Ohr heben und den Kopf leicht zur Seite neigen.
»Westmoreland«, sagte er. »Bitte kommen.«
Sie drehte sich zu John um. Er sah auf und lächelte ihr kurz zu, doch sein Gesichtsausdruck verriet ihn. Jodie bemerkte, dass plötzlich jedes Gefühl aus seinem Gesicht gewichen war.
»Mein Gott«, sagte er, schloss die Augen und kratzte sich an der Stirn. »Und beim Lagerfeuer war auch eines. An der Tür.«
Sie sprachen von dieser schrecklichen Zeichnung, begriff Jodie, die der in dem Lieferwagen glich, in dem er sie beide hergebracht hatte.
Sie kämpfte gegen den Drang an, davonzulaufen.
Scott. Ich muss zu Scott.
»Sir«, rief Westmoreland. »Es ist wichtig. Von den Männern am Tatort.«
John berührte seinen Kopfhörer. »Mark, ich rufe Sie zurück.«
Er ging schnell zu ihnen hinüber. Westmoreland hatte immer noch den Kopf zur Seite geneigt und hörte aufmerksam zu. Er nickte und blickte auf.
»Sie haben einen Brief gefunden, Sir. In dem anderen Steinschuppen.«
»Sie sollen ihn vorlesen.«
»Lesen Sie bitte vor.«
Westmoreland schwieg abermals und lauschte.
»Sehr geehrter Detective Mercer«, begann er.
4. Dezember
27 Minuten bis Tagesanbruch
6:53 Uhr
Mark
Wieder im Büro, ging ich die Akten durch. Irgendetwas entging mir. Es musste so sein, denn ich war sicher, dass ich recht
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