Der 50-50 Killer
Leben bestand doch daraus, immer einen Fuß vor den anderen zu setzen. Solange sie beide zueinanderhielten, konnten sie dies alles durchstehen, und statt weiter auseinandergetrieben zu werden, konnte die gemeinsame Bewältigung dieser Probleme sie vielleicht wieder näher zusammenbringen.
Nummer 274
Trotz alledem, tippte er, schreibst du mich nicht ab.
Er hatte die Liste am Jahresanfang begonnen.
Sie waren gerade in diese Wohnung eingezogen und hatten gemerkt, wie lebhaft es in ihrer neuen Nachbarschaft zugehen würde. In der kurzen Zeit, die sie hier wohnten, hatten sie bereits einen Autodiebstahl am helllichten Tag gesehen, eine kleine Messerstecherei in der Gasse hinterm Haus mit angehört und waren wegen eines Bombenalarms im Secondhandladen weiter oben an der Straße evakuiert worden. Im Moment konnten sie sich keine bessere Gegend leisten, und die Wohnung selbst war auch recht nett, aber sie fühlten sich beide nicht sicher, glücklich oder auch nur annähernd zu Hause.
Überall standen noch Kartons, manche halb leer, andere noch mit Paketband zugeklebt, so als hieße es, dass sie nicht wirklich bleiben würden, wenn sie nicht auspackten. Die Sachen für die Küche hatten sie herausgenommen, und ein paar Kleider eingeräumt, aber ihr einziges Zugeständnis an die Einrichtung eines gemütlichen Heims waren die Stereoanlage und der Fernseher, die sie beide bereits am ersten Abend aufgestellt hatten.
Sie saßen im Wohnzimmer und sahen fern. Jodie musste unbedingt ihre Serien sehen, während sie Scott meistens egal waren. Entweder trotzdem oder gerade deshalb sollte diese Leidenschaft von ihr Nummer 56 werden.
Aber bevor das geschah, fuhr er wegen der Situation aus der Haut.
»Das ist doch Scheiße.«
Jodie sah ihn an und legte dann den Kopf an seine Schulter.
»Ja«, sagte sie. »Aber wir werden’s überleben.« Er legte den Arm um sie.
»Meinst du?«
Sie wechselten sich immer ab: Einer jammerte, und der andere war optimistisch. Es war eine stillschweigende Abmachung. Wenn sie sich beide zur gleichen Zeit runterziehen ließen, würde niemand da sein, der ihnen wieder aufhelfen konnte.
»Ja«, sagte sie. »Weil ich dich liebe.«
Er streckte den Arm aus und berührte sanft ihr Haar. Es war dunkel, glatt und dünn. Sie mochte es nicht, er schon. Legte man die Hand auf ihr Haar, berührte man gleich den Kopf. Es ließ sie zarter erscheinen, als sie wirklich war.
»Aber ich liebe dich noch mehr«, sagte er.
Sie tippte ihm auf die Brust. »Nein, tust du nicht.«
»Tu ich doch.«
Das war eins ihrer üblichen Spiele, und es sollte Nummer 5 werden.
»Beweis es.«
»Beweisen? Es gibt hundert Gründe, warum ich dich liebe.«
Sie drehte sich zu ihm um und sah ihn an. »Dann leg mal los.«
»Was?«
»Einhundert Gründe.« Sie fing an, daran Gefallen zu finden.
»Lass hören.«
»Hmmmm.«
»Siehst du? Alles nur heiße Luft.«
»Nein.« Scott stand auf. »Ich habe nur überlegt, wo ich einen Stift und Papier finden könnte.«
Tatsächlich dachte er Scheiße. Aber er hielt dies auch für eine Gelegenheit, etwas wirklich Gutes zu tun, etwas, das ein bisschen Licht in ihre Situation bringen konnte. Also ging er in den Flur, wühlte in ein paar Kartons und kam eine Minute später mit einem Notizblock und einem Stift zurück.
Jodie hatte ein nachdenkliches Lächeln aufgesetzt, aber es war auch ein glückliches Lächeln.
»Du brauchst das nicht zu tun, weißt du.«
Scott legte einen Finger an die Lippen, während er sich neben sie setzte. »Schsch. Guck deine Seifenopern.«
»Okay.«
Sie wandte sich dem Fernseher zu, und er saß neben ihr und fing an zu schreiben. Zeile um Zeile. Gelegentlich warf sie einen Blick herüber, und er musste das Papier schräg halten, damit sie nichts sehen konnte.
»Na, na.«
»Lass mich sehen!«
»Noch nicht.«
Einhundert Gründe. Als er anfing, hatte er keine Ahnung, wie schwierig es sein würde oder ob er es tatsächlich schaffen würde. Doch er spürte Jodie neben sich, die still vor sich hin lächelte und zu verbergen versuchte, wie sehr sie sich freute. Er war seit einer Ewigkeit nicht mehr so glücklich gewesen, und das allein reichte, ihn bei der Stange zu halten: Er schrieb einen Grund nach dem anderen auf. Lächle so weiter.
Ein paar Minuten später kam der Abspann im Fernsehen. Er drehte die Seite um und schrieb weiter.
Jetzt, fast ein Jahr später, minimierte er das Word-Dokument und ging in eines der Extrazimmer. Einer der Vorteile der Wohnung
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