Der 50-50 Killer
hart mit sich ins Gericht ging. Wie viele Menschen hätten dreihundert Gründe gefunden, ganz zu schweigen von fünfhundert? Wie viele würden es überhaupt versuchen? Es sagte also auch andere Dinge aus.
Er verzog das Gesicht vor Anstrengung, als er das Gewicht hochstemmte, machte aber trotzdem weiter … neun, zehn …
Dreihundert Gründe, das heißt, ich tue mein Bestes.
Es heißt, ich weiß, dass nicht alles perfekt ist, ich am allerwenigsten, aber ich versuche es trotzdem. Weil ich dich auf keinen Fall verlieren will.
Peng.
Die nächste Dreiviertelstunde trainierte er das übliche Programm: Ruderzüge mit geradem und gebeugtem Rücken, Bizepsbeugen, Trizepsstemmen, und schloss mit hundert Situps, die Füße auf dem Boden unter der Hantel fixiert. Als er fertig war, stand er auf, trank den Rest des Wassers und schaltete die Musik ab.
Ein Teil der Musik spielte weiter.
Scott stand eine Sekunde still und horchte.
Es war nicht Teil der Musik, es war ein anderes Geräusch, das schon die ganze Zeit da gewesen war, nur konnte er es jetzt erst richtig hören. Er runzelte die Stirn und ging auf die Tür des anderen Zimmers zu. Sein erster Gedanke war, dass Jodie aus irgendeinem Grund früher heimgekommen sein könnte und vor dem Fernseher saß. Er öffnete die Tür und rief ihren Namen.
»Jodie?«
Ja, es war der Fernseher.
Scott trat in den Flur.
Die Haustür war geschlossen. Zuerst war er enttäuscht, dass sie hereingekommen war, ohne ihn zu begrüßen, dann jedoch wurde dieses Gefühl fast sofort durch Besorgnis verdrängt. Wenn sie früher zurück war, stimmte vielleicht irgendetwas nicht. Er ging zum Wohnzimmer und rief wieder nach ihr.
»Jodie?«
Langsam stieß er die Tür auf, ein unbehagliches Gefühl ließ ihn etwas zögern. Sie knarrte, bewegte sich nicht weiter.
Der Fernseher hinten in der Ecke war an, aber von Jodie war nichts zu sehen. Er trat ins Zimmer.
Zu spät dachte Scott an die Tür zur Küche, rechts vom Wohnzimmer. Aus dem Augenwinkel sah er eine Bewegung, spürte etwas auf sich zukommen und zuckte davor zur Seite, aber wieder zu spät.
Es war, als sei er gegen einen Laternenpfahl gelaufen; von dem Zusammenstoß wurde ihm übel. Plötzlich sah er an die Decke.
Scheiße …
Und dann beugte sich der Teufel über ihn.
Teil II
Im Lauf eines Ermittlungsverfahrens – und das gilt für diese Art von Arbeit ganz allgemein – ist es immer hilfreich, eine schwierige, aber unerlässliche Tatsache nicht zu vergessen: So etwas wie gut und böse gibt es nicht. Sie mögen anderer Meinung sein, aber nach meiner Erfahrung wird diese Meinung Ihnen nicht helfen, ruhiger zu schlafen, und ganz sicher wird sie Ihnen nicht helfen, die Menschen zu fassen, die diese schweren Verbrechen begehen. Jemanden mit dem Etikett »böse« zu belegen ist zu bequem. Die Folgen, die von diesen Menschen für das Leben anderer ausgehen können, sind so schrecklich, dass sie nicht so einfach unter den Teppich gekehrt werden sollten. In Wirklichkeit sind diese Menschen Rädchen im Getriebe der Gesellschaft, die aus ihrem für sie vorgesehenen Platz gesprungen sind. Der Mechanismus, der nützliche, rücksichtsvolle Bürger wie Sie und mich hervorbringt, ist bei ihnen außer Kontrolle geraten. Sie sind zu den »Monstern« geworden, die wir vor uns haben, und wir schulden es ihren Opfern und den Opfern anderer dieser Art, dass wir versuchen, die Entgleisung in dem Prozess zu verstehen, der sie hervorgebracht hat.
In der Polizeiarbeit gibt es weder Gott noch Teufel, weder das Gute noch das Böse. Es gibt keine Ungeheuer, sondern nur beschädigte Menschen. Die Personen, nach denen wir fahnden, stehen wie alle Menschen dieser Welt im Brennpunkt des Schadens, der ihnen zugefügt wurde, und des Schadens, den sie anderen zufügen.
Auszug aus: Die Geschädigten von John Mercer
3. Dezember
15 Stunden 50 Minuten bis Tagesanbruch
15:30 Uhr
Mark
Es war sechs Jahre her, dass ich die lange, kurvenreiche Straße zum Niceday Institute hinaufgefahren war, um mit Jacob Neils zu sprechen.
Es war Sommer, ein heißer, schwüler Sommer. Ich hatte die Ärmel meines Hemdes hochgekrempelt und bewunderte bei offenem Fenster auf der ganzen Fahrt den Wald zu beiden Seiten der Straße. Zuerst horchte ich auf das Vogelgezwitscher in den Bäumen, und als ich dann näher an das Hauptgebäude herankam, auf das Zischen, Brummen und Lärmen des Rasentrimmers eines Gärtners. Die Anstalt vermittelte den Eindruck, dass alles friedlich
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