Der 50-50 Killer
»Und jetzt ist Ihnen klar, dass James Reardon, kurz bevor er Sie besucht hat, den Mann, mit dem seine Ex-Frau zurzeit zusammen ist, verfolgt und angegriffen hat.«
»Das ist mir klar.«
»Der betreffende Mann, Colin Barnes, hat Reardon als seinen Angreifer identifiziert. Barnes war mit Reardons jüngster Tochter im Kinderwagen unterwegs. Das Kind wird vermisst.«
Karli Reardon, ja. All das war in den Nachrichten gesagt worden.
Wenn Hunter den Zeitrahmen richtig ansetzte, und sie war sicher, dass er recht hatte, dann hatte James Reardon seine Tochter bereits entführt, als er zu ihr gekommen war. Eileen war seine letzte Kontaktperson gewesen, bevor er flüchtete.
Was immer Sie über mich hören, ich tue es für sie.
Hunter griff abermals in seine Tasche und zog diesmal ein Foto heraus, das er ihr hinhielt. Sie ignorierte es einen Augenblick lang, denn sie wusste, welche grobe Schockwirkung er damit erzielen wollte, doch dann nahm sie es trotzdem.
»Das ist Amanda Reardon«, sagte er. »Das Bild wurde wahrscheinlich ungefähr zur gleichen Zeit aufgenommen, als ihr Ex-Mann sich wegen all seiner Probleme an Sie gewandt hat.«
Eileen betrachtete das Gesicht der Frau, registrierte die Schwellungen, die Platzwunde und den Ausdruck tiefster Niedergeschlagenheit und Demütigung. Sie verdrängte ihre Gefühle.
Hunter musste gewusst haben, dass sie mit Straffälligen arbeitete. Falls er erwartete, dass das Gesicht eines Opfers sie schockieren oder mit Scham erfüllen würde, hätte er es besser wissen müssen. Gelassen und ungerührt gab sie ihm das Bild zurück.
»Hat er mit Ihnen darüber gesprochen, wie er sich gefühlt hat, als er das getan hat?«
Ja, er hatte darüber gesprochen.
»Ich fürchte, ich verstehe nicht, welche Relevanz das für Ihre Ermittlungen hätte.«
»Ich persönlich bin überrascht, dass er zu einer Frau zur Therapie kam. Sie nicht? Ich meine, er hat doch offensichtlich, sagen wir, starke Gefühle Frauen gegenüber.«
Und auch darüber hatten sie gesprochen. Leute wie Hunter, dachte Eileen, sahen alles nur in krassem Schwarz-Weiß-Gegensatz. Was James Reardon seiner Ex-Frau angetan hatte, war schrecklich und nicht zu entschuldigen, aber Eileen wusste auch, dass er kein genereller Frauenhasser war. Hunter musste einfach einen Bösewicht haben, dem er die Schuld geben konnte. Er brauchte Schurken mit schwarzen und Helden mit weißen Hüten, wohingegen Menschen im wirklichen Leben komplizierter waren und nicht so leicht und bequem ihren Rollen zugeordnet werden konnten.
»Ich fürchte«, sagte sie noch einmal, »ich verstehe nicht, wieso das für Ihre Untersuchung relevant sein soll.«
»Nein?« Hunter beugte sich vor, er war es müde, sie zu verspotten. »Kommen wir also zum Ende. Warum haben Sie heute Vormittag nicht die Polizei angerufen? Sie hätten einer Menge Leuten viel Mühe ersparen können.«
»Ich wusste nicht, dass er ein Verbrechen begehen würde.«
»Er hatte es schon begangen.«
»Wie hätte ich dann irgendjemandem etwas ersparen können?«
Einen Moment lang herrschte Stille, und Eileen empfand ein leichtes, kleinliches Triumphgefühl. Aber dieses ganze Gespräch war absurd. Sie nahm die verschränkten Arme herunter.
»Lassen Sie mich Folgendes klarstellen, Detective Hunter. Egal, was Sie darüber denken, ich bin in dieser Sache nicht auf James Reardons Seite. Ich schütze ihn nicht. Ich verzeihe nicht, was er getan hat. Aber es ist nicht meine Aufgabe, ihn zu verurteilen. Es ist meine Aufgabe, ihm einfach zuzuhören und ihm hoffentlich dabei zu helfen, zu verstehen, warum er diese Dinge getan hat.«
»Verstehen«, nickte Hunter, »das gefällt mir.«
»Genau. Sie finden es wahrscheinlich unangenehm, die Dinge so zu betrachten, Detective, aber was er auch getan hat, James Reardon ist immer noch ein Mensch.«
Hunter sah zu dem Tonbandgerät hinüber.
»Ich halte fest«, sagte er, »dass die Zeugin ein wenig feindselig wirkt.«
Eileen ärgerte sich über sich selbst; sie wandte sich ab und ging zum Kaminsims hinüber. Hunter erhob sich hinter ihr und schickte sich zum Gehen an.
»Nun, da sind wir verschiedener Meinung, Eileen. Für mich ist er nur ein Zielobjekt. Meine Aufgabe – falls Sie das interessieren sollte – ist, seine Tochter zu suchen und ihn zu verhaften, bevor er ihr oder sonst jemandem etwas antut.«
»Er würde ihr niemals etwas antun.«
Hunter lachte hinter ihr.
»Das wissen Sie genau, was? Kennen Sie die Umstände, unter denen er auf seine
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