Der 8. Februar (German Edition)
verriet. Ruth wurde unter dem Gepäck verborgen und musste sich absolut ruhig verhalten, Papa lief vorne links neben dem Ochsen und führte ihn an einem Strick, Ursula und ich liefen frierend im Schnee nebenher. Wir sprachen nicht, worüber auch? Außerdem war es in der Kälte viel zu anstrengend. Wir sahen immer noch Leichen auf beiden Seiten der Straße, sie hatten jetzt noch weniger an als auf dem Hinweg. Es war ein grausiger Anblick und mit nichts zu vergleichen. Ich sah in starre Augen und schmerzverzerrte Gesichter, die mich noch lange in meinen Träumen verfolgten. Dieses Mal konnte uns Papa nicht mehr beschützen. Unsere unzureichenden Schuhe waren nass, wir hatten kalte Füße, und die Strecke schien genauso endlos wie auf dem Hinweg.
Am späten Nachmittag kamen wir wieder zu Hause an und unser Dackel Strolch kam uns freudig entgegen. Papas Jagdhund Minka war schon beim Einmarsch der Russen erschossen worden. Im Hof lagerten russische Soldaten. Einer von ihnen nahm dann Strolch in einem Lastwagen mit. Damit war auch das letzte unserer Haustiere weg, worüber ich sehr traurig war. Ich wollte weinen, doch es kamen keine Tränen mehr. Aber es sollte noch schlimmer kommen.
8. Großmutter Pauline
Unsere verletzte Großmutter war am elften Februar verstorben. Der alte Krause hatte noch eine Ärztin gefunden, die die Wunde behandelte, jedoch vergeblich. Ein Glassplitter der Fensterscheibe, die durch die russische Kugel zerstört worden war, hatte den Weg zu ihrem Herzen gefunden. Als wir ankamen, war unsere liebe Großmutter schon im Garten beerdigt. Krause hatte sie in noch ungebrauchte Gummischürzen aus der Gerberei gewickelt und ohne Sarg begraben. Ich weinte bitterlich, die Tränen flossen wieder.
Meine Enttäuschung und Verzweiflung war riesengroß, da ich mir eine Zukunft ohne sie nicht vorstellen konnte. Wir waren an einem Punkt angelangt, wo nur das Jetzt und Hier zählte. Es ging nur noch darum, das Heute zu überleben. Ich glaube, in diesen Tagen erwachsen geworden zu sein. Ich hatte keine andere Wahl, die Tage des Spielens waren längst vorbei, an mein letztes Lachen konnte ich mich schon nicht mehr erinnern. Ich sah, dass sich um mich herum alles zum Schlechteren entwickelte und ich war unsicher, was mir neu war. Die letzten Tage waren so grausam, dass ich nicht glaubte, jemals einem anderen Erwachsenen als den Familienmitgliedern vertrauen zu können. Mir war sehr kalt.
Der Ochse wurde abgespannt und im Ziegenstall untergebracht. Die Ziegen waren gestohlen worden und zwei Tage später erging es dem Ochsen genauso.
Unsere Kleiderschränke waren leer geräumt, nur ein paar wenige Kleidungsstücke lagen auf dem Boden. Wir brachten alles wieder in Ordnung, so gut es ging, und es war klar, dass wir kaum noch etwas zum Anziehen hatten.
Papa wurde von den Russen zum Einsammeln der Kühe geschickt, die in den Wäldern umherirrten und vor Schmerz brüllten, denn sie mussten ja gemolken werden. Er trug eine weiße Binde am Arm und wurde von den Polen mit Ausweispapieren ausgestattet. Die eingesammelten Kühe wurden dann in unseren Ställen versorgt. Im Vorjahr hatte Papa Farbstoffe auf Vorrat gekauft und lagerte sie auf dem Dachboden für den Neuanfang nach dem Krieg, weil er befürchtete, die Preise würden drastisch steigen. Die Russen hinterließen so ein Durcheinander, dass sich das Farbpulver mit Zuckerrübensirup vermischte und alles unbrauchbar machte. Er hatte auch einen modernen Mähdrescher bei der Firma Claas in Hamburg bestellt, zahlte ihn mit 20.000 Reichsmark an, der aber auf Grund der Umstände nie ausgeliefert wurde, bis heute nicht. Eine Rückzahlung hat es nie gegeben.
Russische Lastwagen fuhren unsere Vorräte ab. Mama und ich trugen eimerweise Kohlen, Briketts und Weizen in unseren Keller und in den Backofen in der Diele. Man ließ uns in Ruhe und schickte uns nicht weg. Die Bestände waren groß und wir hatten genug Zeit, zu retten, was zu retten war.
In Heidau schliefen wir zuerst in Großmutter Paulines Küche, weil es dort warm war. Die anderen Räume konnten wir nicht heizen. Die Betten standen vor dem Küchenfenster, damit war der Ausguss mit Wasserhahn zugestellt, aber es gab ja sowieso kein fließendes Wasser mehr. Außerdem gab es keinen Strom, kein Radio, kein Telefon und keine Zeitung. Wir befanden uns wieder in der Steinzeit, es begann die Zeit der Einschränkungen. Die Geschäfte wurden geschlossen und was man jetzt
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