Der 8. Februar (German Edition)
Vorwürfe, dass sie das Haus verlassen hatte, aber was hätte sie gegen bewaffnete Männer ausrichten können? Es gab keine Moral, keine Gerechtigkeit mehr. Jeder Tag war ein Kampf ums Überleben und oft hatte ich Angst, meine Familie zu verlieren. Durch das magere Essen waren wir alle geschwächt und ich erinnere mich, dass ich den Geschmack von frischem Obst und Schokolade ziemlich vergessen hatte. Wir lebten noch in unserem Haus, doch unsere Heimat hatten wir verloren. Die Menschen um uns hatten sich verändert, das Straßenbild spiegelte die ganze Katastrophe wider. Wo wir früher gespielt hatten, war der Boden mit Blut getränkt, manchmal fanden wir Munitionsteile und Uniformknöpfe. Wir hoben sie nie auf, sondern gingen in einem Bogen daran vorbei. Vielleicht war es ja verboten, mit diesen Stücken erwischt zu werden und wir wollten deshalb kein Risiko eingehen.
Eine meiner Klassenkameradinnen wurde von russischen Soldaten an der Straße nach Liegnitz vergewaltigt und aufs Übelste misshandelt. Ich habe sie dann nie wieder gesehen, denn sie und ihre Mutter verließen Oberheidau kurz danach, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Ihr Vater war in den letzten Kriegstagen in Berlin gefallen und es war eine Seltenheit, diese traurige Botschaft zu erhalten, denn im allgemeinen Chaos ging fast alles unter. Wir lebten in einer Isolation, was zur Folge hatte, dass Nachrichten nur mündlich übermittelt wurden. Vereinzelt kamen deutsche Flüchtlinge aus westlichen Gebieten auf ihrem Weg in ihre alte Heimat zu uns, denn sie sahen Rauch aus unserem Schornstein aufsteigen und baten um etwas Essen und ein Lager für die Nacht. Wir nahmen auf soviel wir konnten, und hörten uns ihre Geschichten an. In jeder Familie gab es Tote und Verschollene. Aussichten auf eine Verbesserung gab es keine mehr für uns. Ich dachte, wir müssten für immer flüchten und uns verstecken, wir würden nie mehr Geld haben und uns menschenwürdig ernähren können.
10. Ruths Versteck und der Weg mit Hilda
Hans Krause führte die Lohnbuchhaltung seit der Glockschützer Zeit, was keine gute Entscheidung war. Kurz vor dem Kriegsende entdeckte der Steuerberater Schieweg, dass Krause für seine jährlichen Urlaubsreisen zu seiner Tochter Grete nach Königsdorf in Ober-schlesien Lohngelder unterschlagen hatte. Alles Geld wurde damals wöchentlich ausgezahlt, keiner der Arbeiter hatte ein Bankkonto. Jede Woche kam eine Zahlung des Bankhauses Eichborn mit der Post. Mama hatte einen Schlüsselbund an ihrem Gürtel und verwaltete das Geld im Tresor. Im Vergleich zu Hans Krauses späteren Untaten war die Veruntreuung von Geld nur eine Bagatelle. Niemand außerhalb der Familie wusste von Krauses tatsächlichem Charakter, unter dem wir zu leiden hatten. Das Schlimmste war, dass er Papa verleumdet hatte und wir glaubten, deshalb käme Papa nicht zurück.
Papa war in Liegnitz gefangen. Herr Seidel, Besitzer des Schützenhauses in Parchwitz, wurde wegen seines hohen Alters entlassen und kam Anfang Mai 1945 auf seinem Nachhauseweg bei uns vorbei, um uns Grüße von Papa auszurichten. Papa wurde aufgrund seines Alters von vierzig Jahren in die russische Gefangenschaft abtransportiert. Das war ein harter und unerwarteter Schlag für uns alle. Was sollten wir nun tun? Nur Männer um siebzig und darüber durften nach Verhören wieder nach Hause gehen. Die Gefangenen kampierten unter freiem Himmel in einem umzäunten Gebiet.
Krause wurde plötzlich von den Sowjets abgeholt, nach Liegnitz gebracht und dort verhört. Bei den Vernehmungen nach dem Einmarsch der Russen bezeichnete er Papa als Nazi und er sagte später zu Mama:
„Artur kommt nicht mehr zurück, dafür habe ich gesorgt!“
Seine Hoffnung war, Mama würde sich mit ihm einlassen. Was für ein schäbiger Gedanke.
Ehe Krause zurückkam, wohnte Frau Neumann bei uns. Wir rückten zusammen und breiteten Matratzen im Schlafzimmer aus. Frau Neumann schlief auch in dem Zimmer, sie und Mama hatten noch Betten. Wir wohnten zu dieser Zeit in Großmutters Wohnung, weil Ukrainerfrauen, die unsere und die eingesammelten Kühe der Nachbarn versorgten, in unseren Räumen lebten. Mama und Ruth mussten auch mithelfen und bekamen dafür Milch. Ruth konnte bis dahin nicht melken, musste es aber lernen. Beide arbeiteten auch hart auf den Feldern und beklagten sich nicht. Der alte Krause schlief im Wohnzimmer auf dem Sofa, auf dem meine liebe Großmutter gestorben war.
Frau
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