Der 8. Februar (German Edition)
räumen mussten, um einem Russenkommando Platz zu machen. Unserer Nachbarin Ida Ernst wurde der Kopf wegen der Läuse kahlgeschoren. Sie hatte im Bett gelegen und Ruth auf einer Matratze davor. Ida kämmte ihre Haare immer auf dem Bett sitzend und so passierte es dann, dass Ruth die Läuse bekam. Mama hatte einen Staubkamm aus der Fabrik gerettet und Ruths Freundin Ursula Baumert kämmte ihr langes Haar unermüdlich, bis sie über einhundert dieser Plagegeister entfernt hatte. Ursula hatte einen eigenen Humor. Als Mama einmal ein paar Stachelbeeren hatte, fragte sie:
„Na, jetzt werden wohl die Stachelbeeren rasiert und dann als Weintrauben verkauft?“
13. Die Sülze und das Verlies
Eines Abends inspizierte ein russischer Offizier doch den ersten Stock unseres Hauses und wählte sich Großmutters Sofa in der Küche als Schlafplatz aus. Wir verließen ihn daraufhin und gingen in unser Schlafzimmer. Am nächsten Morgen war er verschwunden und wir fanden zerrissenes Packpapier auf dem Fußboden der Küche. Mama kniete sich sofort vor das Sofa und überprüfte dessen Unterseite, wo sie ein Bündel Pelz für einen Mantel und ein Säckchen Zucker versteckt hatte. Beides hatte der Offizier gefunden und mitgenommen, bestimmt hatte er den Unterschied in der Federung gespürt. Diese Kerle waren natürlich schon in vielen Häusern gewesen und kannten die allgemeinen Verstecke.
Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht: ein Pferd lag im Straßengraben, es war verletzt und musste getötet werden. Herr Gerschel und meine Schwester Ursula machten sich sofort auf den Weg. Ich war unterwegs, um etwas anderes zu organisieren und kam vor ihnen zu Hause an, so dass ich die beiden heimkommen sah. Jeder hatte ein Pferdebein geschultert, etwas anderes war nicht mehr übrig. Es war ein lustiges Bild, das die zwei boten, besonders weil die Hufeisen noch dran waren und in der Sonne glänzten. Ursula war ganz stolz darauf, dass sie auch etwas für die Familie beitragen konnte und zeigte es mit einem Lächeln. Herr Gerschel sagte:
„Ich ziehe das Fell ab und bringe euch die Fleischknochen in die Küche.“
Damit ging er in unseren Pferdestall, wo sonst das Holz gesägt wurde, und kümmerte sich um die beiden Pferdebeine. Ruth nahm eine große Schüssel mit sauberen Fleischknochen in Empfang und begann gleich mit der Zubereitung. Es wurde eine wunderbare Sülze gekocht, das Fleisch löste sie geschickt von den Knochen und schnitt es in mundgerechte Stücke, die sie anschließend in die Brühe zurückschüttete. Insgesamt füllte sie damit eine große weiße Emailleschüssel aus unserem Acht-Personen-Haushalt und langsam sahen wir, wie die Sülze gelierte. Wir konnten es kaum erwarten, und immer wieder kontrollierten wir, ob sie schon fertig war.
Es klopfte und Mama ging leise zur Haustür. Sie hörte deutsche Laute und fragte, wer da sei. Es antworteten zwei Landser, die anfragten, ob sie bei uns übernachten könnten. Mama öffnete und führten die beiden in die Küche. Sie sahen schlimm und schmutzig aus, trockenes Blut klebte an ihren Jacken. Sie baten um etwas Brot und während sie aßen, fragte der eine, ob noch irgendwo etwas Pferdefleisch zu haben wäre. Mama, die noch nichts von Ruths Kochaktion angerührt hatte, holte die volle Schüssel und stellte sie mitten auf den Tisch. Fassungslos sah ich zu, wie unsere Sülze in Windeseile bis zum letzten Stückchen in den Mündern der beiden verschwand. Die Familie hatte nichts abbekommen, offensichtlich hatte sie sehr gut geschmeckt.
Der eine Soldat erzählte, er sei auf der Insel Rügen zu Hause und sie wollten beide über die Görlitzer Neisse nach Sachsen. Sofort setzte sich Mama hin und schrieb einen Brief an Muttel und Tante Frieda. Die Adresse hatte sie von heimkehrenden Heidauern erfahren. Sie gab den beiden ein paar Reichsmark mit, in der Hoffnung, dass sie damit hinter der Grenze Briefmarken kaufen könnten. Frisch gestärkt machten sie sich vor dem Dunkelwerden auf und wollten sich ein anderes Nachtlager mit Frühstück suchen, unser Brot war ja aufgegessen.
Russische Soldaten trugen ein paar Tage später alle guten Möbel aus unserem Haus und verluden sie auf bereit stehende Lastwagen. Sie sagten, Mama könne die Möbel zurückhaben, wenn die Kommandantur im Hof Pirl aufgelöst würde. Es handelte sich um schwere Eichenmöbel aus dem Ess- und dem Herrenzimmer, den Flügel, die Musiktruhe und die Radios. Das gute Geschirr
Weitere Kostenlose Bücher