Der 8. Februar (German Edition)
dem Haus befand sich schon eine lange Reihe mit wartenden Frauen. Die drei Mädchen kämpften sich bis zur Treppe vor und standen schüchtern und ohne sich zu unterhalten da. Ein junger Arzthelfer kam auf sie zu und fragte, was sie wollten. Ursula und Hilde zeigten ihre Hände und sagten, sie haben alle drei Krätze. Der Arzthelfer sagte erleichtert:
„Gott sei Dank, das ist ja nicht so schlimm, wartet hier.“ Er verschwand im Haus und ließ die drei vor der Tür stehen. Nach einem Moment kam er wieder und gab ihnen drei Töpfchen mit Salbe. Die Tür stand offen und die Mädchen sahen eine Frau im Flur auf einer alten Bahre liegen, sämtliche Zimmer im Erdgeschoss waren anscheinend belegt. Ruth, Hilde und Ursula wussten ohne zu überlegen oder sich zu beraten, dass es sich um Massenabtreibungen handelte. All diese Frauen in der Schlange waren von russischen Soldaten vergewaltigt worden, und die drei erkannten wieder einmal, wieviel Glück sie bis dahin hatten. Hilde übergab sich auf dem Heimweg zweimal. Da sie aber kaum etwas gegessen hatte, blieb es zum größten Teil bei einem schmerzhaften Würgen. Der Heimweg dauerte etwas länger, denn sie wurden langsam müde. Sie mussten sich trotz allem immer wieder umsehen und aufpassen, ob nicht doch wieder ein Militärfahrzeug auf der Straße war. Die mit Krätze befallenen Stellen juckten immer noch, als sie hungrig und staubig zu Hause ankamen. Mittlerweile war es kurz vor dem Dunkelwerden, und die Familien waren schon in Sorge. Ruth lief mit einem kurzen Gruß an uns vorbei und verschwand im Schlafzimmer. Die Salbe half zusehends und war auch ausreichend, so war ein weiterer Fußmarsch nach Liegnitz nicht erforderlich. Wir anderen wurden nicht so krank, dass wir einen Arzt brauchten, sondern konnten uns immer mit alten Hausmitteln und Hilfe von Nachbarn selbst kurieren. Die goldene Regel war, dass Wasser immer abgekocht werden musste, um nicht Typhus oder Ruhr zu bekommen. Das Zähneputzen fiel für eine lange Zeit aus. Es gab vorerst weder Zahnbürsten noch Zahncreme. Am Ende des Krieges gab es besondere Steine, an denen man mit der Zahnbürste reiben musste und so etwas Schaum bekam.
Seit vielen Monaten hatte ich nicht richtig geschlafen, immer verfolgten mich die Erlebnisse des Tages und oft schreckte ich mitten in der Nacht auf. Dann suchte ich Mamas Nähe und versuchte mich zu beruhigen. Außerdem vermisste ich die Schule, meine Kameraden, meine Bücher. In mir stieg eine unglaubliche Angst auf. Sollte ich für immer dumm bleiben? Meine Schwester Ursula hatte noch nicht einmal das erste Schuljahr beenden können. Ihr wollte ich Unterricht geben und so ging ich in das verlassene Lehrerzimmer meiner alten Schule und suchte in dem Chaos nach brauchbarem Material wie Papier, Bleistiften und Fibeln. Ich hatte Glück und fand ein paar leere Hefte und die oben genannten Utensilien verstreut, wickelte das alles in eine heruntergerissene Gardine und machte mich leise auf den Weg nach Hause. Das Wichtigste war jetzt, mit meinen Schätzen nicht aufzufallen und an den polnischen Kindern vorbeizukommen. Ich benutzte einen alten Schleichweg hinter den Häusern, auf dem wir früher Verstecken gespielt hatten. Dieses Mal war es kein Spiel, es war bitterer Ernst, und ich war froh, als ich geduckt und unentdeckt durch die Gärten schleichend zu Hause ankam. Ich nahm mir vor, nicht nur Ursula, sondern auch andere Kinder zu unterrichten. Lesen, schreiben und rechnen war mir so wichtig wie essen.
Allerdings ist zu sagen, dass es nie zu meinem Unterricht kam. Meine Habe kam unversehrt an und stolz zeigte ich sie meiner Familie und auch Göbels, von denen ich zwei Kinder unterrichten wollte. Mama bremste meinen Enthusiasmus und erzählte mir, dass ich ab dem nächsten Morgen Kühe hüten müsste, die sich auf dem Hof des Nachbarn Obst befanden. Der Hof war mittlerweile von einer polnischen Familie vereinnahmt worden. Da der Bauer als Befehlsgeber über mich verfügt hatte, war mein Vorhaben zu einem abrupten Ende gekommen. Meine Enttäuschung war riesengroß und ich hatte Angst, mit fremden Tieren vor den Wald zu ziehen. Ich musste sie mit Stricken über eine von Militärfahrzeugen befahrene Straße ziehen und dann in der Nähe unseres Waldes, der sich einen Kilometer von unserem Wohnhaus entfernt befand, anpflocken. Beim ersten Mal ging der polnische Bauer mit und zeigte mir, auf welchem Stück ich die drei Kühe weiden lassen sollte. Nach dem ersten Tag war
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