Der 8. Tag
Arbeit bei ihr vorbeizukommen. Tessa hatte gespürt, dass Helen ihr auswich, als sie ihr sagte, sie könne es nicht am Telefon besprechen, weil ein Patient wartete. Sie war schon früh eingetroffen und musste vierzig Minuten warten, bis Helen im Behandlungszimmer fertig war. Sie hatte die Zeit damit verbracht, Helens und Clives ältestem Sohn Matthew im Warteraum bei den Mathematikhausaufgaben zu helfen. Damit hatte sie die Zeit herumgebracht und es hatte ihr geholfen die Gedanken zu verdrängen, bis Helens Sprechstundenhilfe ihren Kopf hereingesteckt und sie in das Behandlungszimmer gebeten hatte.
»Ich nehme an, selbst wenn die Fruchtwasseruntersuchung positiv ist, habe ich immer noch die Wahl, oder?«
»Natürlich.«
»Die Wahl zwischen einem behinderten Kind und einer Abtreibung.« Sie machte eine Pause. »Keine gute Wahl, oder?«
»Lass uns darüber nachdenken, wenn es so weit ist. Wenn überhaupt.«
Tessa blickte von ihren Fingern auf, die sie in ihrem Schoß verschränkt hatte. »Du würdest es bekommen, nicht wahr?
Wenn du an meiner Stelle wärest?«
Normalerweise hätte Helen es abgelehnt, einer Patientin eine solche Frage zu beantworten, aber Tessa war mehr als eine Patientin und das Leid in ihren Augen erforderte eine Antwort.
»Ganz ehrlich, ich weiß es nicht. Doch ich muss mich dem auch nicht stellen und du bis jetzt auch noch nicht.« Helen stand auf und kam um den Schreibtisch herum. »Bleib zum Abendessen. Clive isst im College, also bleiben nur ich und die Kinder übrig.«
»Danke, aber ich muss noch ein paar Sachen fertig machen.
Mir geht es gut, wirklich.«
»Ich weiß.«
»Bitte vergiss nicht, dass ich nächste Woche nach Berlin muss. Meinst du, ich kriege den Termin noch vorher?«
»Ja, ich rufe dich morgen an.«
Ein paar Augenblicke später hörte Helen Tessas Wagen die Einfahrt hinunterfahren, dann schaltete sie die Schreibtischlampe aus und ging hinüber in die Küche, wo Marie-Pierre, das französische Aupairmädchen, wunderbare Dinge mit einem einfachen Eintopf anstellte.
Sie machte sich eine Tasse chinesischen Tee und trank ihn ohne Milch. Sie würde unter Umständen ein Glas Wein zum Essen trinken, doch trank sie höchst selten etwas vor dem Essen. Bis die Kinder eines nach dem anderen auftauchten, schaute sie sich irgendeine Nachrichtensendung im Fernsehen an und dann gingen sie gemeinsam in die Küche um zu essen und miteinander zu reden.
Helen fühlte unter ihrer Zufriedenheit eine seltsame Unruhe brodeln. Sie hatte als Arzt und als normaler Mensch schon zu viel Ungerechtigkeit sehen müssen um darüber erstaunt zu sein. Wie dem auch sei, heute Abend würde sie für Tessa und das Kind, von dem sie hoffte, dass sie es behalten würde, beten.
16
OHNE DIE MAUER war Berlin nicht mehr dasselbe. Tessa erkannte die Stadt kaum wieder, als das Taxi durch das Brandenburger Tor raste, hinein in das, was einmal Ostberlin gewesen war. Sie hatte die Stadt nur einmal vorher als Studentin in den frühen Achtzigerjahren besucht und da war die Mauer der bestimmende Eindruck von Berlin gewesen. Das gänzliche Verschwinden der Mauer, wobei nicht einmal zerbröckelte Ruinen oder ein Hinweis darauf, wo sie fast dreißig Jahre lang gestanden hatte, zurückgeblieben waren, hatte etwas Surreales an sich.
Tessas Hotel war ein palastartiger Bau, der nicht so aussah, als hätte man in den letzten eineinhalb Jahrhunderten etwas daran gemacht, außer der vor kurzem vorgenommenen Ausstattung mit westlichem Interieur. Man versuchte das Beste den Ort teuer erscheinen zu lassen, doch sie wusste, dass sie einen ziemlich guten Rabatt bei den Zimmern bekamen.
Es war das dritte Jahr, in dem diese spezielle Konferenz stattfand. Das letzte Jahr war sie in Paris gewesen und das Jahr davor in Edinburgh. Tessa hatte an beiden teilgenommen. Der Zweck dieser Zusammenkunft bestand darin, für vier Tage eine Möglichkeit zu schaffen, bei der die Leute, die sich auf irgendeine Art mit Intelligenz beschäftigten, miteinander reden, Fragen stellen, Aufsätze präsentieren und über alles, was in ihren Köpfen vorging, diskutieren konnten. Zwischen zweiund dreihundert Teilnehmer fanden sich normalerweise ein, die große Mehrheit waren Männer. Tessa wusste nicht, ob die Männer, die auf diesem Gebiet arbeiteten, besonders romantisch oder vielleicht nur besonders frivol waren, aber Tatsache war, dass sie auf jeder der vorherigen Konferenzen einen Heiratsantrag bekommen hatte, ganz abgesehen von eher kurzfristiger
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