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Der Abgrund

Titel: Der Abgrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Baldacci
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wollte schon sein Leben auf Papier festgehalten sehen, damit jeder es genau überprüfen konnte? Und sie erinnerte sich, wie sie sich gefühlt hatte, als John Winters die gleiche Taktik bei ihr angewandt hatte.
    Auf die Blätter waren Daten gekritzelt, die sie Webs Akte und den vorangegangenen Gesprächen entnommen hatte. »Wir gehen jetzt weiter zu...« Sie zögerte. Konnte er damit fertig werden? Konnte  sie  damit fertig werden? Sie fasste einen Entschluss und nannte Web das Datum, mit dem sie weitermachen würden. Es war der Tag, an dem sein Stiefvater gestorben war. »Was sehen Sie, Herr Kameramann?«
    »Nichts.«
    »Nichts?« Claire erinnerte sich. »Schalten Sie die Kamera wieder ein. Also, was sehen Sie jetzt?«
    »Noch immer nichts. Es ist dunkel, vollkommen dunkel.«
    Das ist seltsam, dachte Claire. »Ist es Nacht? Schalten Sie die Lampen an Ihrer Videokamera ein, Herr Kameramann.«
    »Nein, da sind keine Lampen. Ich möchte kein Licht.«
    Claire lehnte sich vor, da Web jetzt von sich selbst sprach. Das war schwierig. Es rückte den Patienten genau in den Mittelpunkt seiner eigenen fehlenden Bewusstheit. Dennoch entschied sie sich, weiterzumachen.
    »Warum will der Kameramann denn kein Licht?«
    »Weil ich Angst habe.«
    »Warum hat  der kleine Junge  Angst?« Sie musste die Objektivität wahren, auch wenn Web auf dem Weg ins Subjektive war. Claire wusste, das konnte ein langer Weg werden.
    »Weil  er  hier draußen ist.«
    »Wer? Raymond Stockton?«
    »Raymond Stockton«, wiederholte Web.
    »Wo ist die Mutter des kleinen Jungen?«
    Webs Brust begann sich wieder zu heben. Er ergriff die Lehnen des Sessels so fest, dass seine Finger zitterten.
    »Wo ist deine Mutter?«
    Webs Stimme war hoch wie die eines Jungen, der noch lange nicht in der Pubertät ist. »Weg. Nein, sie ist wieder da. Sie streiten sich. Sie streiten sich immer.«
    »Deine Mutter und dein Stiefvater streiten sich?«
    »Immer. Pssst!«, zischte Web. »Er kommt. Er kommt.«
    »Woher weißt du das? Was siehst du?«
    »Die Tür geht auf. Die quietscht immer. Immer. Einfach so. Er kommt die Treppe rauf. Er hat es oben. Sein Zeug. Ich hab es gesehen. Ich habe ihn gesehen.«
    »Entspannen Sie sich, Web. Es ist alles in Ordnung. Alles ist in Ordnung.« Claire wollte ihn nicht berühren, aus Angst, ihn zu erschrecken, aber sie kauerte so dicht vor Web, dass er ihre Gegenwart spüren konnte. Claire bereitete sich darauf vor, die Sitzung abzubrechen, bevor sie außer Kontrolle geriet. Aber wenn sie doch nur noch einen kleinen Schritt weiter gehen könnten, nur noch einen kleinen Schritt...
    »Er ist jetzt oben auf der Treppe. Ich höre ihn. Ich höre meine Mutter. Sie wartet da unten.«
    »Aber Sie können nichts sehen. Sie sind noch immer im Dunkeln.«
    »Ich kann sehen.« Die Tonlage der Stimme überraschte Claire, denn sie war tief und bedrohlich und nicht mehr der Ruf eines schrecklich verängstigten Jungen.
    »Wie können Sie sehen, Herr Kameramann? Was sehen Sie?«
    Web schrie die nächsten Worte so plötzlich heraus, dass Claire beinah zu Boden gefallen wäre.
    »Verdammt, das wissen  Sie doch  schon!«
    Den Bruchteil einer Sekunde lang dachte sie, er würde direkt zu ihr sprechen. Das war noch nie zuvor in einer HypnoseSitzung geschehen. Was meinte er? Dass sie diese Information schon hatte? Doch dann beruhigte er sich und fuhr fort.
    »Ich hab die Kleider ein bisschen hochgehoben. Ich bin unter den Kleidern. Ich versteck mich.«
    »Vor dem Stiefvater des kleinen Jungen?«
    »Ich will nicht, dass er mich sieht.«
    »Weil der kleine Junge Angst hat?«
    »Nein, ich hab keine Angst. Ich will nicht, dass er mich sieht. Er darf mich nicht sehen. Jetzt noch nicht.«
    »Warum, was meinen Sie?«
    »Er steht direkt vor mir, dreht mir aber den Rücken zu. Sein Zeug liegt genau dort. Er bückt sich, um was aufzuheben.«
    Webs Stimme wurde tiefer, als würde er vor ihren Augen von einem Jungen zum Mann heranwachsen.
    »Ich komm jetzt aus meinem Versteck. Ich muss mich nicht mehr verstecken. Unter den Kleidern. Das sind die Kleider meiner Mutter. Sie hat die Sachen für mich hierhin gelegt.«
    »Hat sie das? Warum?«
    »Damit ich mich verstecken kann, wenn er kommt. Ich steh jetzt auf. Ich bin größer als er. Ich bin stärker als er.«
    In Webs Stimme lag ein Ton, der Claire äußerst nervös machte. Sie bemerkte, dass ihr eigener Atem jetzt in Stößen kam, obwohl Web sich beruhigt hatte. Sie hatte eine böse Ahnung, wohin diese Sache führte.

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