Der Abgrund
bringen? Und Web hatte sich später die Bruchstücke zusammenreimen können, womit er seine Schuld so weit unterdrückte, dass er sich schließlich nur noch unter Hypnose an den Vorfall erinnern konnte? Aber eine solch außergewöhnliche unterdrückte Erinnerung würde jeden Aspekt seines Lebens und seiner Zukunft überschatten. Claire verstand jetzt sehr gut, warum Web so war, wie er war. Er war ein Mann des Gesetzes geworden, aber nicht, um Harry Sullivans Verbrechen zu sühnen, sondern wegen seiner eigenen Schuld. Ein Junge, der auf Anweisung seiner Mutter dabei half, den Stiefvater umzubringen... was sein inneres Gleichgewicht betraf, konnte es wohl kaum schlimmer kommen.
Claire schaute zu Web hinüber, der ganz friedlich dort saß, mit geschlossenen Augen, und auf die nächste Anweisung wartete. Kinder aus einem Elternhaus, in dem Missbrauch vorkam, zogen sich oft in Fantasiewelten zurück, eine Art Flucht vor der grausamen Realität, und das in einem solchen Ausmaß, dass sie ganze Teile ihrer Erinnerung entweder ausschmücken oder aber auch komplett auslöschen konnten, so wie Web es getan hatte. Auch wenn er äußerlich dynamisch, unabhängig und dominant wirkte, war Web London im Inneren eher submissiv, ein Mensch, der sich auf andere verließ. Daher rührte wohl auch seine Abhängigkeit vom HRT-Team und seine außergewöhnliche Fähigkeit, Befehle auszuführen. Er wollte unbedingt gefallen, akzeptiert werden.
Sie schüttelte den Kopf. Und dennoch hatte dieser Mann der psychologischen Belastung sowohl des FBI wie auch des HRT widerstanden. Web hatte gesagt, dass er die psychologischen Tests durchschaut und einen Weg gefunden hatte, sich hindurchzumogeln. Er wusste ja gar nicht, wie Recht er damit hatte.
Als sie Romano ansah, kam ihr etwas in den Sinn. Sie musste die Fragen sehr vorsichtig formulieren, da sie keinerlei vertrauliche Patienteninformationen preisgeben durfte. Web hatte ihr gesagt, er nehme keinerlei Medikamente, und sie hatte ihm geglaubt. Nachdem sie nun einiges über ihn erfahren hatte, fragte sie sich, ob das wirklich den Tatsachen entsprach, angesichts der Traumata in seinem Inneren, die ihn zerfraßen. Sie winkte Romano beiseite, außerhalb von Webs Hörweite. »Wissen Sie, ob Web irgendwelche Medikamente nimmt?«, fragte sie leise.
»Hat Web irgendwas dergleichen gesagt?«
»Ich fragte mich das nur. Ist so eine Art Anfangsfrage, die jeder Seelenklempner stellt«, wich sie ihm aus.
»Viele Leute nehmen Tabletten, um besser schlafen zu können«, sagte Romano, ein wenig zu scharf.
Sie hatte nichts von Schlaftabletten erwähnt. Romano wusste also etwas. »Ich behaupte ja gar nicht, dass es falsch ist, Medikamente zu nehmen. Ich wollte nur wissen, ob er Ihnen gegenüber mal erwähnt hat, dass er etwas nimmt, und wenn ja, was.«
»Wenn Sie glauben, er ist abhängig oder so was, dann kann ich Ihnen nur sagen, Sie sind verrückt.«
»Das unterstelle ich doch gar nicht. Es ist nur wichtig für mich, zu wissen, ob er schon mal irgendwelche Beruhigungsmittel nimmt. Wegen der Therapie.«
Romano glaubte ihr noch immer nicht. »Warum fragen Sie ihn dann nicht selbst?«
»Sie wissen doch bestimmt, dass die Leute ihren Ärzten und ganz besonders einer Ärztin wie mir nicht immer die Wahrheit sagen. Ich will nur sichergehen, dass es keine Probleme gibt.«
Romano schaute zu Web hinüber, offensichtlich um sich zu vergewissern, dass er nichts mitbekam. Dann sah er wieder zu Claire und schien Schwierigkeiten zu haben, die Worte herauszubringen. »Ich habe neulich gesehen, dass er ein Fläschchen mit Pillen in der Hand hielt. Aber hören Sie, er macht gerade einiges durch, und das macht ihm schwer zu schaffen, und da braucht er vielleicht ein bisschen zur Beruhigung. Aber das FBI stellt sich wegen dem Zeug noch immer furchtbar an. Die schmeißen einen über Bord und rühren keine Hand, ob einer absäuft oder nicht. Da müssen wir Jungs halt ein wenig aufeinander aufpassen.« Romano hielt inne und sah zu Web hinüber. »Er ist der Beste, den das HRT je hatte«, sagte er etwas wehmütig.
»Sie wissen, dass er auch sehr viel von Ihnen hält.«
»Ich glaube schon. Ja, das weiß ich.«
Romano ging hinaus. Claire trat zum Fenster und sah ihm nach, wie er die Straße überquerte und dann außer Sicht verschwand. Es musste ihm sehr schwer gefallen sein, so ein vertrauliches Detail über seinen Freund zu enthüllen. Aber letzten Endes hatte er Web damit weit mehr geholfen als geschadet.
Sie setzte
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