Der Abgrund
Jedes Mal hatte O'Bannon ihm einen posthypnotischen Befehl auferlegt, genau wie Claire es getan hatte, um Web die Erinnerung an die Sitzung zu nehmen. Claire schreckte auf, als sie entdeckte, dass Web während einer Hypnosesitzung die gesamte Episode über den Tod seines Stiefvaters enthüllt hatte. Die Notizen waren fast in einer Art Kode geschrieben, doch Claire sah in Großbuchstaben Verweise wie STOCKTON, DACHBODEN und LIEBSTER DADDY, die sie überzeugten, dass O'Bannon von Web die gleiche Geschichte wie sie zu hören bekommen hatte. Nun war völlig klar, warum Web sie während der Sitzung angeschrien hatte: »Verdammt, das wissen Sie doch schon!« Sein Unterbewusstsein hatte das alles schon einmal enthüllt, allerdings O'Bannon und nicht ihr.
Die Verabreichung der Placebos wurde ebenfalls in den Notizen erwähnt. Claire vermutete, dass sie wahrscheinlich eine Art Messvorrichtung dafür waren, wie fest O'Bannon seine Befehle in Webs Unterbewusstsein eingepflanzt hatte. Und in der Tat, im weiteren Text beschrieb O'Bannon, dass er Web unter Hypnose suggeriert hatte, es wären die bei weitem stärksten Schlafmittel auf dem Markt, und Web hatte pflichtgemäß berichtet, dass die Pillen funktionierten.
Hypnose. War das des Rätsels Lösung? War es das, was in jener Gasse wirklich mit Web vor sich gegangen war? Immerhin war Web nicht gezwungen worden, etwas zu tun, was er nicht tun wollte, zum Beispiel, jemanden kaltblütig zu töten. Er war einfach dazu gebracht worden, nichts zu tun.
Sie dachte kurz darüber nach, Web anzurufen, ihm zu berichten, was sie herausgefunden hatte, und ihn dann um Hilfe zu bitten. Aber von hier konnte sie nicht anrufen, nicht bei all diesen Abhörgeräten. Sie musste das Büro verlassen und ihn dann anrufen.
Sie fuhr fort, das Material durchzublättern. O'Bannon hatte auf seine verschlüsselte Weise geschrieben, dass er ein ausgezeichnetes Vertrauensverhältnis zu Web aufgebaut hatte. Und O'Bannon hatte festgehalten, dass ein Psychiater - in weiser Voraussicht behauptete er nicht, es selbst getan zu haben - in seine hypnotische Suggestion einbauen könnte, dass er für einen Patienten wie Web zu einer Vaterfigur werden konnte, der ihn vor seinem Stiefvater beschützte. Und dass, wann immer Web die Befehle des Psychiaters nicht ausführte, der Stiefvater zurückkehren und ihn töten würde. Seine einzige Sicherheit lag damit darin, genau das zu tun, was man ihm befohlen hatte.
O'Bannon war schließlich zum Schluss gekommen, dass Web ein ausgezeichneter Kandidat für posthypnotische Befehle war und damit ein Sicherheitsrisiko darstellte. Nur Claires besonderen Kenntnissen und ihre Vertrautheit mit seinem Fall ermöglichten es ihr, zwischen den Zeilen des Berichts zu lesen. Da sie Webs psychologische Konstitution genauestens kannte, war ihr klar, dass Web einem derart verankerten Befehl unmöglich entgegenwirken konnte. Und doch hatte er es geschafft, den posthypnotischen Befehl für kurze Zeit zu überwinden, in den Innenhof zu gelangen und auf diese Maschinenpistolen zu schießen, trotz einer starken mentalen Barriere, die es ihm verbot. Dies musste Webs bemerkenswerteste Leistung in jener Nacht gewesen sein.
Claire musste eingestehen, dass O'Bannon seinen Bericht sehr geschickt verfasst hatte und offensichtlich versuchte, seine Spuren zu verwischen, ein weiterer Grund für sie, vorsichtig zu sein. O'Bannon hatte so ziemlich jede Möglichkeit vorhergesehen, nur die nicht, dass sie Web behandeln und selbst herausfinden würde, was O'Bannon bereits aus den Tiefen von Webs Unterbewusstsein gegraben hatte. Kein Wunder, dass O'Bannon so bemüht gewesen war, Web als Patienten zu behalten.
Es war Zeit, Leute hinzuzuziehen, die mit solchen Sachen umzugehen wussten. Das war ganz und gar nicht ihre Liga.
Sie wandte sich um, um in ihr Büro zurückzukehren, ihre Sachen zu packen und zu gehen. Der Mann stand da und beobachtete sie. Sie hielt den Schraubenzieher hoch, doch er richtete eine Pistole auf sie.
Und Ed O'Bannon sah ganz so aus, als hätte er keine Skrupel, sie auch zu benutzen.
KAPITEL 45
In Quantico verstaute Web seine Ausrüstung und brachte mit dem Rest des Teams die übliche Befragung nach einem Einsatz hinter sich. Viel konnten sie nicht erklären. Web war der Ansicht, dass die Schüsse von außerhalb des Gebäudes gekommen waren. In diesem Fall mussten die Kugeln sich irgendwo in diesem Raum befinden, wenngleich noch jede Menge Geschosse in den Wänden steckten und sortiert
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