Der Abschiedsstein: Das Geheimnis Der Grossen Schwerter 2
zusammen wie ein silbergrüner Faden. Manchmal tönte es sanft, dann wieder kräftig oder schrill und laut, aber der Wechsel erfolgte so übergangslos, dass es beim Zuhören unmöglich war, im Gedächtnis zu behalten, was man gerade eben noch im Ohr gehabt hatte, oder zu begreifen, dass es überhaupt noch etwas anderes geben könnte als den Augenblick.
Gan Itai saß mit untergeschlagenen Beinen auf dem Vorderdeck, den Kopf in den Nacken geworfen, sodass die Kapuze lose auf ihren Schultern lag und das weiße Haar im Wind wehte. Ihre Augen waren geschlossen. Sie schwankte hin und her, als wäre ihr Lied ein schnell dahinströmender Fluss, den zu befahren ihre ganze Konzentration erforderte.
Miriamel zog den Kapuzenmantel enger und ließ sich im zweifelhaften Schutz der Bordwand nieder, um ihr zu lauschen.
Der Gesang der Niskie mochte seit gut einer Stunde angedauert haben. Geschmeidig glitt er von Ton zu Ton und von Tempo zu Tempo. Manchmal waren die fließenden Worte wie Pfeile, die funkelnd und stechend ins Weite flogen, manchmal wie kunstvoll angeordnete Edelsteine, die mit glühenden Farben blendeten. Durch alles hindurch zog sich eine tiefere Melodie, die nie ganz verstummte, eine Melodie, die von friedlichen, grünen Tiefen zu singen schien, von Schlaf und von schwerer, tröstender Stille.
Miriamel erwachte mit einem kleinen Ruck. Sie sah auf und begegnete Gan Itais Blick, die sie vom Vorderdeck her neugierig betrachtete.Nachdem die Niskie aufgehört hatte zu singen, klang das Rauschen des Ozeans merkwürdig flach und unmelodisch.
»Was tust du hier, Kind?«
Miriamel fühlte sich seltsam verlegen. Sie war noch nie einer singenden Niskie so nahe gewesen. Fast kam es ihr vor, als hätte sie etwas sehr Intimes belauscht.
»Ich bin auf Deck gegangen, um ein wenig frische Luft zu schöpfen. Ich hatte mit Graf Aspitis zu Abend gegessen; dabei ist mir schlecht geworden.« Sie holte tief Atem, um ihre noch immer zitternde Stimme zu beruhigen. »Du singst wundervoll.«
Gan Itai lächelte verschmitzt. »Das ist richtig. Sonst wären der Eadne-Wolke nicht so viele sichere Fahrten gelungen. Komm, setz dich zu mir und erzähl mir etwas. Ich brauche eine Weile nicht zu singen, und die späten Wachen sind einsam.«
Miriamel kletterte nach oben und hockte sich neben die Niskie. »Wirst du vom Singen nicht müde?«
Gan Itai lachte leise. »Wird eine Mutter nicht müde vom Kinderhüten? Natürlich! Aber das ist nun einmal meine Aufgabe.«
Miriamel warf einen verstohlenen Blick auf Gan Itais faltiges Gesicht. Unter den weißen Brauen spähten die Augen der Niskie ins Weite und ließen Gischt und Dünung nicht aus den Augen.
»Warum hat Cadrach dich so genannt – Tinuk …?« Sie versuchte sich an das Wort zu erinnern.
»Tinukeda’ya. Weil es das ist, was wir sind: Meereskinder. Dein Vormund ist ein gelehrter Mann.«
»Aber was bedeutet es?«
»Es bedeutet, dass wir immer auf dem Meer gelebt haben. Selbst drüben im fernen Garten wohnten wir immer dort, wo das Land aufhört. Erst seitdem wir hierhergekommen sind, haben sich einige von den Kindern des Seefahrers verändert. Manche haben dem Meer gänzlich den Rücken gekehrt, was für mich so unverständlich ist, als stelle jemand das Atmen ein und behaupte, so lebe es sich hervorragend.« Sie schüttelte den Kopf und presste die schmalen Lippen zusammen.
»Woher kommt dein Volk?«
»Von weit her. Osten Ard ist erst seit kurzem unsere Heimat.«
Miriamel blieb eine Weile nachdenklich sitzen. »Ich dachte immer, Niskies wären so etwas wie Wranna. Ihr seht ihnen auch wirklich sehr ähnlich.«
Gan Itai stieß ein zischendes Gelächter aus. »Ich habe gehört«, meinte sie, »dass manchmal ganz unterschiedliche Tiere mit der Zeit einander ähnlich werden, weil ihre Lebensweise ähnlich ist. Vielleicht haben die Wranna, genau wie die Tinukeda’ya, zu lange den Nacken gebeugt.« Sie lachte wieder, aber Miriamel fand, dass es nicht fröhlich klang. »Und du, Kind?«, fuhr die Niskie endlich fort. »Jetzt bist du an der Reihe, Fragen zu beantworten. Warum bist du hier?«
Miriamel starrte sie erschrocken an. »Wie?«
»Warum bist du hier? Ich habe über deine Worte nachgedacht und bin nicht sicher, dass ich dir glauben kann.«
»Graf Aspitis tut es«, entgegnete Miriamel ein wenig trotzig.
»Das kann sein, aber ich bin anders als er.« Gan Itai sah Miriamel eindringlich an. Selbst im matten Licht der Lampen glitzerten die Augen der Niskie wie Anthrazit. »Sag mir die
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