Der Abschiedsstein: Das Geheimnis Der Grossen Schwerter 2
der gewöhnliche Ausdruck gutgelaunter Verschmitztheit verschwunden.
»Ich muss mit dir sprechen, Mädchen«, erklärte die alte Frau.
»W-was?« In der Miene der Niskie lag etwas Beunruhigendes.
»Ich hatte einen Traum. Einen Traum von dir – und von bösen Tagen.« Gan Itai senkte den Kopf, drehte sich um und blickte aufsMeer hinaus, bevor sie fortfuhr: »Der Traum hat mir gesagt, dass du in Gefahr bist, Miri…«
Sie brach plötzlich ab und sah an Miriamels Schulter vorbei. Die Prinzessin beugte sich zu ihr hinunter. Hatte sie sich verhört, oder hatte Gan Itai sie gerade bei ihrem richtigen Namen nennen wollen? Aber das war unmöglich; nur Cadrach wusste, wer sie war, und der Mönch hatte es bestimmt keinem an Bord erzählt. Zu unvorhersehbar wären die Folgen dieser Enthüllung gewesen, denn immerhin war Cadrach – wie sie – auf diesem Schiff eingesperrt. Die Folgen einer derartigen Enthüllung waren allzu ungewiss. Nein, es musste die merkwürdige Redeweise der Niskie sein.
»Ho! Schöne Dame!«, schallte eine fröhliche Stimme vom Dock herauf. »Es ist zwar ein nasser Morgen, aber vielleicht habt Ihr trotzdem Lust, Euch Vinitta anzuschauen?«
Miriamel wirbelte herum. Am Fuß des Landungsstegs stand Aspitis mit seinen Bewaffneten. Der Graf trug einen prachtvollen Mantel und glänzende Stiefel. In seinem Haar tanzte der Wind.
»O ja!«, rief Miriamel erfreut und ganz aufgeregt zurück. Wie wundervoll, endlich vom Schiff herunterzukommen! »Ich bin sofort bei Euch!«
Als sie sich umdrehte, war Gan Itai verschwunden. Miriamel runzelte ganz leicht die Stirn. Sie wunderte sich. Unvermittelt fiel ihr der Mönch ein, der mit versteinertem Gesicht in der gemeinsamen Kabine hockte. Sie empfand eine Anwandlung von Mitleid.
»Darf ich Bruder Cadrach mitbringen?«, rief sie zu Aspitis hinunter.
Er lachte. »Aber sicher! Vielleicht ist es nützlich, wenn wir einen heiligen Mann bei uns haben, der uns vor allzu großen Ausschweifungen bewahrt! Dann kommen wir wenigstens noch mit ein paar Cintis-Stücken in der Börse nach Hause.«
Miriamel lief nach unten, um Cadrach zu holen. Er warf ihr einen sonderbaren Blick zu, schlüpfte jedoch in die Stiefel, suchte sich sorgfältig den dicksten Mantel aus und folgte ihr die Leiter hinauf.Der Wind frischte auf, und die Regenschauer wurden heftiger. Obwohl sie zuerst vollauf zufrieden gewesen war, über den geschäftigen Kai zu schlendern, Seite an Seite mit dem schönen, geselligen Grafen, war sie schon bald gar nicht mehr so begeistert darüber, das Schiff verlassen zu haben. Trotz der bunten Menge erschienen ihr die Gassen von Vinitta trübe und grau. Als Aspitis ihr bei einem Blumenhändler einen Glockenblumenkranz kaufte und zärtlich um den Hals legte, musste sie sich zwingen, ihn anzulächeln.
Es ist das Wetter, dachte sie. Dieses unnatürliche Wetter hat den ganzen Hochsommer in eine dicke, graue Suppe verwandelt. Die Kälte geht mir durch Mark und Bein.
Sie erinnerte sich an ihren Vater und daran, wie er allein in seinem Zimmer gesessen hatte, an die eisig abwehrende Miene, die er manchmal aufsetzte wie eine Maske – eine Maske, die ihm während ihrer letzten Monate auf dem Hochhorst mehr und mehr zur zweiten Natur geworden war. Kalte Gebeine und Herzen kalt, sang sie leise vor sich hin, als der Graf seine Begleiter durch die vom Regen glatten Gassen Vinittas führte.
Kalte Gebeine und Herzen kalt,
liegen am Strand, am Clodu-See,
nach der Schlacht in Regen und Schnee,
eisig, bis Ädons Trompete erschallt …
Kurz vor Mittag suchte Aspitis mit ihnen eine Speisehalle auf. Innen wurde Miriamel sogleich wieder munter. Die Halle hatte eine hohe Decke, aber drei große Feuerstellen machten sie warm und anheimelnd und füllten zugleich die Luft mit Rauch und Bratenduft. Auch viele andere Leute fanden offenbar, dass die Halle an diesem bitterkalten Morgen ein angenehmer Aufenthaltsort war. Der Lärm der Esser und Trinker ließ die Balken beben. Der Wirt und seine zahlreichen Helfer arbeiteten bis zur Erschöpfung. In einer einzigen fließenden Bewegung knallten sie Bierkrüge und Weinschalen auf die hölzernen Tische und nahmen die hochgehaltenen Münzen entgegen.
Am hinteren Ende der Halle hatte man eine rohe Bühne aufgebaut.Dort jonglierte gerade ein Junge zwischen den Akten eines Puppenspiels. Er strengte sich an, mehrere Stöcke in der Luft zu halten, und hatte die Scherze der betrunkenen Zuschauer zu ertragen, wobei er mit den Füßen – seinen einzigen
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