Der Adler ist entkommen
Dorf. Ein Weiler mit fünfzehn Häusern, einer Kirche und einem Gemischtwarenladen. Es gab keine Dorfschenke, und die Hälfte der Häuser stand leer. Nur die Alten waren geblieben. Die jüngeren Leute waren längst weggegangen, arbeiteten in der Kriegsindustrie oder im zivilen Dienst, oder sie waren in die Armee eingetreten.
Es regnete an diesem Morgen, als ein Mann mit seinem schwarzen Labradorhund die Dorfstraße hinunterging. Sir Maxwell Shaw war kräftig gebaut und mittelgroß. Sein zerfurchtes Gesicht verriet den Gelegenheitstrinker, und der schwarze Schnurrbart konnte diesen Eindruck nicht mildern. Die meiste Zeit machte er ein mürrisches Gesicht, war stets zu einem Streit aufgelegt, und im allgemeinen gingen ihm seine Mitmenschen aus dem Weg.
Er trug einen Tweedhut mit heruntergezogener Krempe, eine wasserdichte Jagdjacke und Gummistiefel. Unter einem Arm hing eine doppelläufige Schrotflinte. Als er den Laden erreichte, bückte er sich und strich dem Labrador über die Ohren, wobei sein Gesicht einen fast zärtlichen Ausdruck annahm.
»Gutes Mädchen, Neu. Sitz.«
Eine Glocke erklang, als er den Laden betrat. Ein alter Mann
in den Siebzigern lehnte an der Theke und unterhielt sich mit
einer Frau dahinter, die noch älter war.
»Guten Morgen, Tinker«, sagte Shaw.
»Guten Morgen, Sir Maxwell.«
»Sie haben mir Zigaretten versprochen, Mrs. Dawson.«
Die alte Frau holte ein Paket unter der Theke hervor. »Ich hab' von meinem Bekannten in Dymchurch zweihundert Players bekommen, Sir Maxwell. Sie stammen vom Schwarzmarkt, daher sind sie ziemlich teuer.«
»Trifft das heutzutage nicht auf alles zu? Schreiben Sie es auf meine Rechnung.«
Er verstaute das Paket in einer seiner Jagdtaschen und ging hinaus. Während er die Tür schloß, hörte er noch, wie Tinker sagte: »Armer Teufel!«
Er holte tief Luft, um seine Wut zu zügeln, und gab der Labradorhündin einen Klaps. »Komm, Mädchen, gehen wir«, sagte er dann und marschierte davon.
Es war Maxwell Shaws Großvater gewesen, ein Stahlbaron, der auf dem Höhepunkt der viktorianischen Industrialisierung den Grundstein zum Wohlstand der Familie gelegt hatte. Er war es auch gewesen, der das Anwesen erworben, es in Shaw Place umbenannt und sich 1885, als Millionär mit dem Titel eines Baronets, dort zur Ruhe gesetzt hatte. Sein Sohn hatte kein Interesse an der Firma gehabt, daher war sie in andere Hände übergegangen. Er hatte Karriere in der Armee gemacht und war schließlich während der Burenkriege in der Schlacht von Spion Kop gefallen.
Maxwell Shaw, 1890 geboren, trat in die Fußstapfen seines Vaters. Eton, Sandhurst, eine Offiziersstelle in der indischen Armee. Er diente während des Ersten Weltkriegs in Mesopotamien, kehrte 1916 nach Hause zurück und wurde zu einem Infanterieregiment versetzt. Seine Mutter lebte zu der Zeit noch. Seine Schwester, zehn Jahre jünger als er, war mit einem Piloten des Royal Flying Corps verheiratet und versah selbst ihren Dienst als Krankenschwester. Im Jahr 1917 kam Maxwell aus Frankreich zurück, schwer verwundet und mit einem Military Cross ausgezeichnet. Während seiner Rekonvaleszenz lernte er beim örtlichen Jägerball ein Mädchen kennen, das seine Frau werden sollte. Er heiratete es, ehe er wieder nach Frankreich ging.
Es war 1918, das letzte Kriegsjahr, als sich auf einmal die Ereignisse überstürzten. Seine Mutter starb, kurz darauf seine Frau. Sie war mit einer Jagdgesellschaft ausgeritten und dabei schwer gestürzt. Zehn Tage lang rang sie mit dem Tod, lange genug für Shaw, um mit Sonderurlaub nach Hause zu eilen und bei ihr zu sein, als sie starb. Es war seine Schwester Lavinia, die ihm auf seinem schweren Gang beistand, die ihm am Grab eine Stütze war. Doch schon nach einem Monat war auch sie allein. Ihr Mann war über der Westfront abgeschossen worden.
Wie so viele fanden sich die Geschwister Shaw nach dem Krieg in einer völlig fremden Welt wieder, und Maxwell gefiel sie überhaupt nicht. Wenigstens waren er und Lavinia zusammen, und sie hatten Shaw Place, doch als die Jahre vergingen und ihr Kapital immer mehr schwand, wurde das Leben zunehmend schwieriger. Maxwell saß eine Zeitlang für die Konservativen im Parlament, verlor seinen Sitz jedoch nach einer beschämenden Wahlniederlage an einen Sozialisten. Wie viele Angehörige seiner Gesellschaftsschicht war er ein fanatischer Antisemit. Dies wurde noch verschlimmert durch seinen plötzlichen
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