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Der Advent, in dem Emma ihren Schutzengel verklagte

Der Advent, in dem Emma ihren Schutzengel verklagte

Titel: Der Advent, in dem Emma ihren Schutzengel verklagte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noel Hardy
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elektrisch ver stärkte Violine hinzu. Eine Männerstimme intonierte »The Devil Went Down to Georgia«.
    Jetzt, am frühen Abend des 24. Dezember, waren Emma, Julian und der Engel die einzigen Gäste im Amor Club, der erst in einer Stunde aufmachte. Außer den Neonleisten brannten nur ein paar trübe Punktstrahler über der Bar, sonst gab es keine Lichtquellen in dem noch leeren Raum. Nach und nach trafen die ersten Mädchen ein, blass und zitternd vor Kälte, und verschwanden in ihrer Garde robe.
    Â»Ich habe natürlich versucht, die da oben irgendwie zu beruhigen«, fuhr Murat etwas lauter fort. »Stillhalten ist immer das Beste. Wir stellen uns einfach tot, habe ich gesagt, keine Reaktion, nichts, nada, so tun, als gäbe es uns gar nicht. Schließlich glaubt sowieso die Hälfte der Menschen nicht an uns – keine Engel, keinen Himmel, kein Leben nach dem Tod, keinen Gott. Endlich können wir mal davon profitieren, habe ich gesagt.« Er hob die Hände und ließ sie wieder fallen. »Und was sagt der Allmächtige? Wenn die Engel anfingen, sich ihrer Verantwortung zu entziehen, könnte der Teufel daraus Kapital schlagen. Werbemäßig. Als jemand, der da ist und zu seinen Taten steht! Könnte ihn noch attraktiver machen, als er eh schon ist. Wenn wir uns dem Verfahren nicht stellen und unsere Fehler wiedergutzumachen versuchen, werden sich noch mehr Leute enttäuscht von uns abwenden – Ori ginalton Personalabteilung –, und das können wir uns we niger denn je leisten. Höchster Imageschaden für den Himmel!«
    Â»Dann lassen die es also auf ein Verfahren ankommen«, sagte Julian. »Sind Sie mit dem von uns vorgeschlagenen Gerichtsstand einverstanden?«
    Â»Eigentlich hoffe ich, dass wir uns außergerichtlich einigen können«, sagte Murat. »Zurzeit sind sie da oben wahrscheinlich mehr oder weniger mit allem einverstan den. Bevor ich runtergeschickt worden bin, haben sie nämlich den Fall einer eingehenden Prüfung unterzogen. Das übliche Prozedere, wenn es Beschwerden gibt. Und im Rahmen dieser Prüfung ist auch die Tätigkeit aller anderen Schutzengel überprüft worden.«
    Â»Mit welchem Ergebnis?«, hakte Julian ein.
    Â»Mit dem Ergebnis«, erklärte Murat fast gereizt, »dass jetzt alle bis an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit gehen und der Hölle kein Reich mehr bleibt, wie es in dem Gedicht heißt. Wenn Sie in den nächsten Tagen mal die Nachrichten hören oder lesen, werden Sie überrascht sein: Wunder überall, kein Unglück, keiner stirbt mehr vor der Zeit, kaum noch Hass oder Missgunst, die neue Großherzigkeit! Ich muss zugeben, das war nicht immer so. Deswegen hat die Hölle wohl in letzter Zeit ihren Marktanteil in der werberelevanten Zielgruppe beträcht lich vergrößern können. Überflutungen in Australien, Waldbrände in Kalifornien, Massaker in Afrika, Tsunami in Japan, Erdbeben, das Comeback uralter Seuchen, jede Menge Seelen, die im ewigen Feuer schmoren …«
    Â»Soll das heißen«, fragte Emma, als ihr die volle Trag weite von Murats Worten bewusst wurde, »die ganzen Wunder, von denen ich dann in der Zeitung lesen werde, sind gewissermaßen mein Verdienst?«
    Â»Da oben benutzt man einen anderen Begriff als Verdienst«, bestätigte Murat.
    Â»Und zwar?«, schnappte Julian.
    Â» Schuld – ihre Mitschuld! Okay, meine auch. Ein bisschen, weil ich ja für Emma zuständig gewesen wäre. An dererseits sind wir natürlich jedes Jahr angehalten, im Dezember ganz besonders sorgfältig zu arbeiten, weil der 31. Bilanztag ist. Diese dauernden Überstunden gehen sowieso schon an die Substanz, und ihr könnt euch vielleicht vorstellen, dass die da oben deswegen nicht gerade gut auf euch – und mich – zu sprechen sind.«
    Eins der kürzlich eingetroffenen Mädchen, nun nur noch mit Höschen und BH bekleidet, verließ die Garderobe und schlenderte zur Bar, wo es sich über den Tresen beugte, um nach etwas auf der anderen Seite zu greifen. Murat folgte ihr mit den Augen. Sein Mund öffnete sich und blieb so, ohne dass er noch etwas sagte.
    Â»Herr Honigfels«, sagte Emma.
    Er reagierte nicht.
    Â»Murat«, sagte Julian etwas lauter.
    Er reagierte noch immer nicht.
    Emma sagte noch einmal: »Engel Honigfels!«
    Â»Ja?«
    Â»Sollten Sie nicht langsam Ihren Blick senken oder ganz

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