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Der Advent, in dem Emma ihren Schutzengel verklagte

Der Advent, in dem Emma ihren Schutzengel verklagte

Titel: Der Advent, in dem Emma ihren Schutzengel verklagte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noel Hardy
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sich über die Jahre nur noch Falsifikate, Kopien und Ramsch hier angesammelt hatten und es deswegen mit dem Auktionshaus ständig weiter bergab gegangen war?
    Ein Schreck durchfuhr sie: Eine Leiter in Kombination mit ihr bedeutete Fallen, einen Sturz, der nur in gebroche nen Gliedmaßen oder unwiederbringlich zerstörter Kunst enden konnte. Ihr wurde schwindlig. Sie begann zu zittern, eine Hand ausgestreckt nach dem zusammengerollten, von einem Bindfaden verschnürten Giotto-Engel. Plötzlich blendete sie die trübe Funzel an der Decke. Dann drehte sich alles um sie, immer schneller.
    Sie sah es genau vor sich. Gleich würde sie das Gleichgewicht verlieren, rückwärts von der Leiter fallen und mit dem Kopf auf das unersetzliche Porzellanservice aus dem Familienbesitz der Wellingtons aufschlagen. Dann: Blut und Scherben, vielleicht ein gebrochener Arm.
    Aber nichts geschah. Der Raum hörte auf, sich zu drehen. Die Leiter trug ihr Gewicht, als sie den Giotto ergriff und mit einer Hand festhielt, während sie Sprosse um Sprosse nach unten kletterte, bis sie wieder sicher auf dem Boden stand. Sie war nicht gestürzt, hatte nichts kaputtgemacht oder beschädigt.
    Sie schob die Leiter beiseite, nahm die Vase und trug sie zur Treppe, um bei Tageslicht noch einmal zu untersuchen, ob der Riss wirklich so tief war. Da hörte sie von oben drei helle melodische Schläge, die Glocke an der La dentür, gefolgt von einem Lachen. Zwei Männer be traten das Geschäft. Emma erkannte die Stimme des Mon signore, dann die des Engels.
    Â»Glauben Sie, er fällt drauf rein?«, fragte der Mon signore.
    Â»Wenn er der Betrüger ist, für den Sie ihn halten«, sagte Murat. »Zur Sicherheit sollten wir ihn aber noch mal auf die Probe stellen. Hier haben wir ja genug Auswahl. Jetzt sind Sie an der Reihe, Monsignore.«
    Emma eilte die Treppe hinauf in den Verkaufsraum, in dessen Mitte Vitus Wenzel stand und sich aufmerksam umsah.
    Murat bemerkte Emma und kam schnurstracks auf sie zu. »Wo ist die Madonna, von der du gesprochen hast?«, fragte er, ohne die Vase in ihren Händen auch nur eines Blickes zu würdigen. »Kann ich sie sehen?«
    Emma nickte. »Die Treppe runter. Aber nicht anfassen, ja?«
    Während Murat ins Lager hinunterstieg, ging Emma zu Monsignore Wenzel, der mit prüfend vorgeneigtem Kopf mehrere Gemälde an der Wand neben der Kasse in Augenschein nahm, bevor er sich einem blassen Frauenporträt in einem groben Keilrahmen zuwandte. Er trat einen Schritt vor, dann zwei zurück und schließlich wie der einen vor, wobei er mehrmals den Kopf schüttelte. »Was ist das?«, fragte er.
    Â»Ein Vermeer«, erklärte Emma und stellte die Vase auf einem Stuhl ab.
    Der Monsignore schüttelte wieder den Kopf. »Ich sehe keine Signatur. Es tut nur so, als ob es ein Vermeer wäre. Darf ich?«
    Emma nickte.
    Er hob das Bild von der Wand, um es ins Licht zu tragen, das durch das Schaufenster hereinfiel. »Das da unten links könnte eine Signatur sein, aber nicht die von Meister Jan van Delft. Die Schultern, der Brustansatz – so hätte er das Mädchen gemalt, wenn er Caravaggio oder gar Rubens gewesen wäre. Das ist ja fast ein Akt. Es han delt sich mit ziemlicher Sicherheit um eine Fälschung, wie fast alles, was sich von Vermeer in Privatbesitz befindet. Tut mir leid, Emma. Oder wollten Sie mich nur auf die Probe stellen?« Er trug das Gemälde zurück und legte es auf einen Lalique-Tisch, auf dem neben einem Service aus schwerem Silber noch Platz war. Er betrachtete das Service näher und lächelte. »Augsburger Rokoko. Was für eine herrliche Arbeit!« Er nahm ein Kännchen in die Hand, drehte es um und betrachtete den Boden. »Dazu noch echt! Das dürfte den niederländischen Rubens wett machen.«
    Emma trat auf das wachsblasse Frauenporträt zu. »Woher wissen Sie, dass es sich um eine Fälschung handelt?«
    Â»Ach«, seufzte der Monsignore, »das Gesamtwerk dieses Malers ist überschaubar, meine Tochter. Und er war außerordentlich keusch. Wer mit Andeutungen und Zei chen arbeitet, verwendet darauf aber meistens große Sorg falt. Vermeer hätte sich auch niemals diese Fehler in den Proportionen geleistet – hier, die Schultern, die Schläfen, der Nacken, der zarte Flaum hinter den Ohren. Die Farben sind stumpf, das Material der Kleider hätte er viel stärker

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