Der Agent - The Invisible
nicht über sich, an ihre Tür zu klopfen. Er sagte sich, dass es zu spät war und dass ihr Gespräch in einer lautstarken Auseinandersetzung enden würde, die niemanden im Haus ruhig schlafen ließ, doch das war nur die halbe Wahrheit. Tatsache war, dass er nicht wusste, was er ihr sagen sollte. Bevor Jonathan Harper ihn für die CIA angeworben hatte, war er acht Jahre bei der Army gewesen. Während dieser Zeit hatte er nie einen Zivilisten getötet. Ihm
war bewusst, dass dies möglicherweise nicht ganz stimmte. Er hatte in Bosnien, im Kosovo und am Golf gekämpft, und einige Auseinandersetzungen hatten in dicht bevölkerten städtischen Gebieten stattgefunden. Es war denkbar, dass eine seiner Kugeln versehentlich einen Unschuldigen getroffen hatte. Aber er wusste nichts davon und war einigermaßen sicher, dass seine Kugeln das ins Visier genommene Ziel und nichts sonst getroffen hatten.
Naomi dagegen wusste genau, was sie getan hatte, und konnte sich dieser Einsicht nicht verschließen. Sie hatte auf einen Schlag sechs unschuldige Menschen getötet. Natürlich nicht absichtlich - die Beweggründe für ihr Handeln waren anderer Natur -, doch ihm war klar, dass es eigentlich keinen Unterschied machte, zumindest für sie nicht. Und die Sache wurde nicht einfacher dadurch, dass sie vor zehn Monaten schon einmal einen unschuldigen Menschen getötet hatte. Er hatte aus nächster Nähe miterlebt, was sie durchmachte, sah es bei jedem Blick in ihre Augen. Sie war immer noch nicht darüber hinweg, und damals war es nur ein Opfer gewesen.
Und jetzt das.
Er setzte sich auf die Bettkante, stand auf und stapfte in das angrenzende Bad, wo er die Dusche anstellte und schon darunter trat, bevor das Wasser warm war. Drei Minuten später griff er nach einem Handtuch, um sich abzutrocknen. Dann wischte er den beschlagenen Spiegel ab und studierte sein Gesicht. Seit einigen Monaten hatte er sich einen Bart stehen lassen, der nicht außergewöhnlich lang war, aber zu Trugschlüssen über sein Alter und die Form seines Gesichts führen konnte. Vielleicht wirkte er damit in Pakistan unauffälliger.
Aber er machte sich nichts vor, man würde ihn nie für einen Einheimischen halten. Außerdem musste er erst mal aus
Spanien herauskommen. Die Augenzeugen der Ereignisse in Madrid erinnerten sich womöglich an den Bart, vielleicht stand auch im Polizeibericht etwas davon. Zweifellos gab es auch ein gezeichnetes Phantombild, das an die Flughäfen weitergegeben worden war. Es war besser, den Bart abzunehmen.
Als er mit dem Rasieren fertig war, kehrte er in sein Zimmer zurück und zog eine dunkle Jeans und ein anthrazitfarbenes T-Shirt an. Im Flur blieb er einen Augenblick stehen, um zu horchen. Es war noch früh - kurz nach acht -, aber unten klapperte jemand mit Tellern, und er hörte das Geräusch laufenden Wassers. Am Ende des Flurs hielt er vor der Tür von Naomis Zimmer inne. Hierher kam das Geräusch, sie musste unter der Dusche stehen.
Er zögerte nachdenklich, drückte dann die Klinke nieder. Die Tür war abgeschlossen, doch das einfache Schloss war in zwanzig Sekunden zu knacken. Wenn er wollte.
Wollte er? Wieder musste er an ihren Blick in dem Hotel in Madrid zurückdenken. Daran, was er in ihren Augen gesehen hatte. Sie schien so weit weg zu sein, doch es musste mehr dahinterstecken als die posttraumatische Belastungsstörung, unter der sie litt. Deren Symptome waren ihm so vertraut wie den Psychiatern in Langley, man konnte so etwas nicht verbergen. Doch hinter dem, was ihm in dem Hotel aufgefallen war, steckte etwas völlig anderes, und er musste wissen, was die Ursache war. Selbst dann, wenn er schon entschieden hatte, sie nicht mit nach Pakistan zu nehmen.
Es war ganz einfach, er musste es wissen.
Als seine Entscheidung gefallen war, ging er zu seinem Zimmer zurück, darüber nachdenkend, womit er das Schloss knacken konnte. Doch schon nach ein paar Schritten machte er kehrt. Er erinnerte sich daran, dass seine eigene Tür in der
letzten Nacht geklemmt hatte. Vielleicht reichte es, einmal kräftig mit der Schulter gegen Naomis Tür zu stoßen.
So war es. Die Tür sprang auf, und er stand in ihrem Zimmer.
Die Tür des Bades war geschlossen, in dem Zimmer war das Geräusch des Wassers lauter. Naomis Unterwäsche lag vor der Tür, zusammen mit einer weißen Bluse und einer dunklen Hose, die ihr Pétain während der Fahrt nach Cartagena gekauft hatte. Sie musste sich am Vortag umgezogen haben, während er im
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