Der Agent - The Invisible
wieder auf Bukhari richtete. Wenn du Scheiße baust, kriegst du’s mit mir zu tun. Verlass dich drauf.
In Cartagena wurde Naomi Kharmai vom Geräusch des Regens vor dem Fenster ihres Zimmers im ersten Stock geweckt. Sie setzte sich auf die Bettkante und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Dann betrat sie das Bad, spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht und betrachtete sich im Spiegel. Sie sah fürchterlich aus, doch das war nicht überraschend, und es hätte schlimmer sein können. Schlimmer sein müssen, dachte sie. Ihr Haar war wirr, die Haut um ihre geröteten Augen verquollen. Erstaunlich, wenn man bedachte, wie fest sie geschlafen hatte. Sie fuhr mit dem Zeigefinger über die Narbe auf der rechten Wange, die vom Backenknochen bis zum Hinterkiefer reichte. Nicht zum ersten Mal kam ihr der Gedanke, dass sie es verdient hatte, mit der entstellenden Narbe leben zu müssen.
Nachdem sie sich das Gesicht abgetrocknet hatte, ging sie
ins Zimmer zurück, wo sie einen Bademantel anzog, auf den Balkon trat und tief die kühle Morgenluft einatmete. Dann überkam sie ein tiefes Schuldgefühl.
Was tue ich hier?, fragte sie sich deprimiert. Ich habe es nicht verdient, noch zu leben. Ich sollte tot sein, wie die anderen. Wie die Menschen, die durch mich ums Leben gekommen sind.
Tränen stiegen ihr in die Augen, doch sie machte sich nicht die Mühe, sie wegzuwischen. Sie trat wieder ins Zimmer und warf auf dem Weg zum Flur einen Blick auf die Uhr auf dem Nachttisch. Wie angewurzelt blieb sie stehen und wischte sich doch die Tränen ab, damit die Ziffern nicht verschwammen. Dann sah sie ein zweites Mal hin und stellte mit offenem Mund fest, dass sie sich nicht getäuscht hatte. Es war sieben Uhr morgens, und das bedeutete, dass sie fast neunzehn Stunden geschlafen hatte.
Neunzehn Stunden? Sie fragte sich, wie das möglich war, kannte die Antwort aber bereits. Ihre Augen glitten zu der Tasche, die am Fußende des Bettes stand. Als der Kurier sie am Vortag vorbeigebracht hatte, waren die Tabletten noch da. Sie hatte keine Ahnung, ob Ryan die Tasche durchwühlt hatte, glaubte es aber nicht. Er hätte die Tabletten an sich genommen. Sie erinnerte sich dunkel, einige davon genommen zu haben, bevor er mit ihr geredet hatte. Nein, es musste fast eine Handvoll gewesen sein, wenn sie neunzehn Stunden geschlafen hatte.
Sie zog den Riegel an der Tür zurück und trat in den Flur. Auf dem Weg nach unten hörte sie Geräusche aus der Küche. Als sie einen Moment später eintrat, stand Elise Machado im Morgenrock an der Anrichte und füllte die Kaffeemaschine. Sie lächelte, warf Kharmai aber einen besorgten Blick zu, als sie deren Gesicht sah.
»Was haben Sie? Stimmt etwas nicht?«
»Wo ist Ryan?«
»Sie sind weggefahren, gestern.« Sie wirkte verwirrt. »Ich dachte, Sie wüssten es.«
Kharmai war verdutzt. Was war hier los? »Was soll das heißen, weggefahren?«, stammelte sie, sich an der Tür festhaltend. »Wohin sind sie?«
Elise Machado schüttelte entschuldigend den Kopf, offenbar verstört durch Kharmais Reaktion. »Ich weiß es wirklich nicht. Sie haben kaum etwas gesagt, sich eigentlich nur verabschiedet … Dann sind sie in dem Auto verschwunden, das mein Mann ihnen besorgt hat.«
»Und wo ist er?«, brachte Kharmai mühsam hervor. »Ihr Mann, meine ich.«
»Er wollte etwas besorgen und hat gesagt, er wäre in ein paar Stunden zurück. Warum?«
Kharmai runzelte ungläubig die Stirn. Wie konnte Ryan ihr das antun? Einfach verschwinden, ohne ihr etwas zu sagen? Und warum hatte er Pétain mitgenommen? Wohin wollten sie?
Nachdem sie sich kurz mit leerem Blick umgeschaut hatte, fiel ihr eine andere Frage ein. »Was ist mit meinem Telefon? Hat Ryan es mitgenommen?«
»Meinen Sie das klobige schwarze Ding? Das mit der Antenne?«
»Genau. Hat er es mitgenommen?«
Machados Frau schien einen Moment darüber nachzudenken und schüttelte dann bedächtig den Kopf. »Nein, ich glaube nicht, aber genau kann ich es nicht sagen.«
Als Kharmai die Augen schloss und seufzte, fragte Elise Machado erneut, ob etwas nicht stimme.
»Nein«, antwortete Kharmai, die ihre Stimme wie von fern hörte, als wäre es nicht ihre eigene. »Mir geht’s gut. Ich … gehe nur eben nach oben, um zu duschen, und bin gleich wieder da.«
Elise Machado nickte verunsichert, lächelte schüchtern und zeigte auf die tröpfelnde Kaffeemaschine. »Möchten Sie nicht erst einen Kaffee?«
»Nein«, antwortete Kharmai scharf, bereute den unangemessenen
Weitere Kostenlose Bücher