Der Agent - The Invisible
hatte. Oder sie konnte sofort die Notbremse ziehen, um nicht in den Abgrund zu rutschen.
Wenn sie aber die Entscheidung traf, mit dem Morphin Schluss zu machen, musste sie sich ihrer Sache sicher sein. Denn wenn sie das Richtige tat, musste sie für mindestens fünf Tage durch die Hölle gehen, vielleicht noch für deutlich länger.
Die Tablettendose mit der rechten Hand umklammernd, atmete sie tief durch und nahm ihren Mut zusammen. Dann trat sie ins Bad, drehte die Dose über der Kloschüssel um und sah mit klopfendem Herzen, wie eine Tablette nach der anderen ins Wasser fiel. Sie zwang sich, nicht aufzuhören, aber ihre Glieder zitterten von dem Willensakt zu vernichten, was ihr allein Erleichterung verschaffte, das einzige Mittel, das ihr die Flucht aus der Realität ermöglichte. Als die Dose leer war, betätigte sie die Spülung, und ihr Magen verkrampfte sich, als das Wasser die Tabletten mit sich riss.
Sie klappte den Deckel zu, setzte sich darauf, stützte die Ellbogen auf die Knie und vergrub das Gesicht in den Händen. Von dem, was sie in den nächsten ein oder zwei Tagen erwartete, hatte sie eine eher vage Vorstellung, aber es war bestimmt schlimm. Trotzdem, sie hatte ihre Entscheidung getroffen. Außerdem war nichts mehr rückgängig zu machen; die Tabletten waren weg, jetzt musste sie es durchstehen.
Nun stellte sich die Frage, wie es weitergehen sollte. Zuerst würde sie Harper anrufen, und es musste passieren, bevor die Entzugserscheinungen einsetzten. Harper war nicht dumm, und es verhielt sich exakt so, wie Ryan vermutet hatte - er wusste verdammt genau, was mit ihr los war, und würde selbst am Telefon beurteilen können, ob ihr das Morphin ausgegangen war.
Doch auch sie war nicht dumm. Ihr war klar, dass Harper sie als Köder benutzt hatte, um Ryan für die Operation zu gewinnen. Zuvor war sie nicht bereit gewesen, es zuzugeben, nicht einmal sich selbst gegenüber, doch nun hatte sie keine Lust mehr, sich etwas vorzumachen. Zugleich wusste sie, dass sie etwas zum Erfolg der Operation beitragen konnte, dass sie sehr viel mehr als nur eine Marionette war. Sie hatte keine Ahnung,
wohin Ryan verschwunden war, doch ihr Gefühl sagte ihr, dass sein Ziel Pakistan hieß. Womöglich war er schon da. Dort würde ihre Hilfe unverzichtbar sein. Sie sprach fließend Punjabi und respektables Urdu, kannte die Kultur und Gebräuche und konnte sich aufgrund ihres Äußeren unauffällig unter den Einheimischen bewegen. Auch wenn es ihm noch nicht bewusst war, Ryan brauchte sie. Obwohl noch immer wütend, würde sie ihm die üble Vorstellung vom Vortag verzeihen, wenn er bereit war, sie wieder an Bord zu holen. Sie musste dabei sein, das war ihr nun klar. Nicht wegen ihm oder der Menschen, die durch sie gestorben waren, sondern in ihrem eigenen Interesse.
Ein Geräusch riss sie aus ihren Gedanken. Sie hob den Kopf, lauschte angestrengt, sprang auf, verließ das Bad und stürmte auf den Balkon. Unter ihr kam Javier Machados Jaguar die Auffahrt rechts neben dem Garten herauf. Sie ging ins Zimmer zurück, warf den Bademantel aufs Bett und zog sich schnell an. Was immer die nächsten Tage bringen mochten, sie fühlte sich plötzlich von frischer Energie belebt. Machado musste wissen, wo das Satellitentelefon war, und wenn sie es hatte, würde sie Harper anrufen und alles in Bewegung setzen. Zum ersten Mal seit einem knappen Jahr war sie sicher, was sie tun musste, und das war ein besseres Gefühl, als sie je geglaubt hätte.
32
Langley, Virginia
Es war kurz nach acht morgens, als Harper in Robert Andrews’ Büro im sechsten Stock des Old Headquarters Building trat. Das Gebäude war Teil des weitläufigen Komplexes des CIA-Hauptquartiers in Langley, Virginia. Neben dem Memorial Wall fand sich dort auch eine beeindruckende Bibliothek mit sechsundzwanzigtausend Bänden, die allerdings nicht für die Öffentlichkeit, sondern nur für Mitarbeiter des Geheimdienstes zugänglich war. Im Erdgeschoss des Old Headquarters Building gab es eine Tagesstätte, eine Cafeteria und eine kleine Sporthalle. Kurz, das Gebäude bot alle Annehmlichkeiten, die man in modernen amerikanischen Unternehmenssitzen erwartete. Gleichwohl hatten die CIA-Mitarbeiter selten Zeit, die Angebote zu genießen. Das galt insbesondere in Krisensituationen, und für die CIA und die anderen amerikanischen Nachrichtendienste herrschte seit vier Tagen - seit der Entführung von Außenministerin Fitzgerald - eine regelrechte Dauerkrise.
So war es nicht
Weitere Kostenlose Bücher