Der Agent - The Invisible
er sie kennenlernte - stark, aber unschuldig, intelligent, aber naiv, jung, aber in vielerlei Hinsicht schon zu weit für ihr Alter. Obwohl sie während ihrer kurzen Laufbahn entsetzliche Dinge gesehen hatte, war es ihr trotzdem gelungen, länger als erwartet eine Art jugendlicher Unbekümmertheit zu bewahren. Jetzt schien es allerdings, als hätte sie das, was sie während der letzten beiden Jahre erlebt und durchlitten hatte, endgültig eingeholt. Das war unvermeidlich, aber auch für ihn schwer zu ertragen. Es war alles zu viel für sie gewesen.
Zumindest war das seine ursprüngliche Einschätzung. Kurz nach Mitternacht war er auf Harpers Zimmer gegangen, um ihm zu sagen, er sei dabei. Kurz darauf hatte Harper Kharmai informiert, die kurz nach sieben Uhr morgens an seine Tür klopfte. Als er öffnete, sah er eine ganz andere Frau vor sich als am Abend zuvor. Trotz der frühen Stunde hatte sie bereits geduscht und sich reisefertig angezogen. Sie wirkte sehr wach, lächelte und schien die Auseinandersetzung in der Bar völlig vergessen zu haben. Da er nicht bereit war, die Sache so schnell auf sich beruhen zu lassen, hatte er sie beim Frühstück im Restaurant des Hotels dazu zu bewegen versucht, sich zu öffnen, doch sie ignorierte seine Versuche, mehr über die letzten sechs Monate ihres Lebens zu erfahren. Stattdessen wollte sie sofort über ihren gemeinsamen Auftrag reden. Er ging zögernd darauf
ein, weil er keinen neuen Streit provozieren wollte, fand ihre Verschlossenheit aber frustrierend.
Er musste es zugeben - je länger sie sprach, desto mehr interessierte ihn der neue Fall. Jetzt, während sie auf der anderen Seite des schmalen Ganges schlief, ließ er noch einmal Revue passieren, was sie am Frühstückstisch gesagt hatte. Hauptsächlich ging es um die einzige Spur hinsichtlich des Aufenthaltsortes von Amari Saifi. Laut den jüngsten Informationen der CIA konnte sie ein anderer Algerier vielleicht zu ihm führen, ein Mann namens Kamil Ghafour.
Viele Details hatte Naomi nicht zu bieten, doch sie fügten sich zu einem allgemeinen Bild. Vor seiner Verhaftung im Jahr 2002 war der achtundzwanzigjährige Ghafour ein überzeugtes, wenn auch nicht besonders prominentes Mitglied der Groupe islamique armé gewesen, besser unter der Abkürzung GIA bekannt. Ihr Ziel war es, die algerische Regierung zu stürzen und ein islamisches Regime zu errichten. Damit war es mit jenem der GSPC, der Groupe Salafiste pour la Prédication et le Combat, identisch, die sich 1998 von der GIA abgespalten hatte. Die GIA war noch immer aktiv, Ghafour hingegen mehr oder weniger von der Bildfläche verschwunden.
Vor zwei Monaten war er im Zuge einer Amnestie für verurteilte Terroristen aus dem Gefängnis entlassen worden. Danach gab er der unabhängigen algerischen Zeitung El Khabar ein Interview.
Selbst dem erfahrenen Journalisten, der das Gespräch führte, war es nicht gelungen, Ghafours inkohärenten Redefluss zu bremsen und einen mäßigenden Einfluss auf ihn auszuüben. Neben der aggressiv regierungskritischen Polemik enthielt das Interview allerdings eine aufschlussreiche Information. Ghafour behauptete, im Gefängnis eine enge Freundschaft
geschlossen zu haben, und zwar mit niemand anderem als Amari Saifi, dem ehemaligen Anführer der GSPC.
Normalerweise wäre das ein unbedeutendes Detail gewesen, doch im Licht der jüngsten Entführungswelle in Pakistan, bei der Saifi vermutlich die Finger im Spiel hatte, rückte die Information bei der CIA ins Zentrum des Interesses. Saifi war nicht aus dem Gefängnis ausgebrochen, hatte aber auch nicht seine volle Haftstrafe abgesessen. Das konnte nur bedeuten, dass jemand für seine Entlassung gesorgt hatte. Seitens der CIA hoffte man, dass Saifi seinem Mithäftling Kamil Ghafour etwas anvertraut hatte. Das war zugegebenermaßen weit hergeholt, doch Ghafour war die einzige verifizierbare Verbindung zu Saifi, und das machte es wichtig, ihn zu finden. Die algerische Regierung hatte sich mehr oder weniger geweigert, der Bitte des amerikanischen Außenministeriums um weitere Informationen zu entsprechen, was aber niemanden überraschte. Ghafour - und alle anderen einheimischen Terroristen - waren der Regierung peinlich. Trotzdem, dank der Arbeit der operativen Abteilung in Langley und einer Quelle in der spanischen Botschaft in Washington war es doch nicht so schwierig gewesen, Ghafours Aufenthaltsort in Erfahrung zu bringen.
Die Information des Botschaftsangehörigen besagte, dass Kamil
Weitere Kostenlose Bücher