Der Agent - The Invisible
wollte er, dass sie verstummte, das Thema fallen ließ, doch ihm war klar, dass es nicht dazu kommen würde. Sie war nicht der Typ, der einer schmerzhaften Erfahrung auswich, so viel war mittlerweile klar. Er hatte sie von Anfang an falsch eingeschätzt.
»Sie haben meine Schwester umgebracht, wie nicht anders zu erwarten, aber das war noch nicht das Schlimmste. Ich studierte damals an der Universität in Marquette. Die Semesterferien hatten gerade begonnen, und ich beschloss, für ein paar Wochen nach Spanien zu fliegen. Meine Eltern holten mich am Flughafen ab, und als wir zu Hause eintrafen …« Sie unterbrach sich, um ihre Kräfte zu sammeln. »Jemand war in unser Haus eingebrochen und hatte überall Fotos angeklebt. An die Wände, den Kühlschrank... Ein paar waren so versteckt, dass wir später durch Zufall darauf stoßen würden.«
»Fotos Ihrer Schwester?«, fragte Kealey leise.
»Ja.« Sie schluckte. Ein paar Tränen rannen ihre Wangen hinab, doch sie schien es nicht zu bemerken. »Aber das war es noch nicht. Als sie Caroline folterten, haben sie die ganze Zeit fotografiert, sogar ein Video gedreht … Der Rekorder lief, als
wir nach Hause kamen, wir hörten ihre Schreie schon an der Tür … Es war, als wäre sie da.«
»Mein Gott«, sagte Kealey leise. Es war die abartigste Geschichte, die ihm je zu Ohren gekommen war, und sie passte zu dem, was er über die kolumbianischen Drogenkartelle wusste. Zugleich beantwortete sie alle seine Fragen. Machados Wunsch, seine lebende Tochter vor Gefahren zu bewahren, schien jetzt ebenso logisch wie Pétains fehlendes Bedauern darüber, dass sie Kamil Ghafour getötet hatte. Nach dem, was sie durchgemacht hatte, konnte ihr das Leben eines Mannes wie Ghafour nicht mehr viel bedeuten. Er fragte sich, wie sie es nach diesen Erfahrungen überhaupt geschafft hatte, bei der CIA genommen zu werden, denn dort wurde man gleich zu Beginn genau durchleuchtet. Ihre Geschichte hätte genug Alarmglocken schrillen lassen müssen, um sie nicht einzustellen, aber vielleicht hatte ihr Vater ein paar Strippen gezogen.
»Jetzt wissen Sie es also.« Sie stellte das Glas weg und schaute ihn an. Kealey sah, dass die Tränen bereits getrocknet waren. Vermutlich hatte sie während der letzten zehn Jahre genug Zeit gehabt, um ihre Schwester zu trauern, und es bedurfte keines Hellsehers, um zu erkennen, dass ihre Trauer sich in etwas Gefährlicheres verwandelt hatte. »Carolines Tod hat alles geändert. Meine Mutter wurde halbwegs gut damit fertig, aber mein Vater war am Boden zerstört. An diesem Tag ist er um zehn Jahre gealtert, und seitdem war er nie mehr derselbe wie zuvor.«
»Und Sie?«, fragte er leise. »Wie sind Sie damit umgegangen?«
»Ich?« Sie saß völlig reglos da und blickte ihn mit einem festen Blick an. »Ich bin zur CIA gegangen.« Sie stand auf und griff nach ihrem leeren Glas. »Ich weiß, worum es hier ging.«
Das kam unerwartet, und er lehnte sich zurück und wartete.
»Unser ganzes Gespräch. Sie haben sich zu mir gesetzt, um etwas über mich herauszufinden.« Sie schwieg und studierte seine Miene. »Ich kann es Ihnen nicht verübeln … Man muss wissen, mit wem man arbeitet. Aber jetzt, wo von meiner Seite alles gesagt ist, muss ich Sie fragen, ob Sie Ihre Meinung geändert haben. Also, möchten Sie immer noch, dass ich Ihnen helfe?«
Er blickte auf und studierte lange ihre Miene. Sie wirkte völlig gleichgültig. Wie er auch antwortete, sie würde es akzeptieren.
»Sie sollten besser schlafen gehen«, sagte er schließlich. »Wir müssen morgen früh aufstehen.«
Sie lächelte und wollte ins Haus gehen, drehte sich aber nach ein paar Schritten noch einmal um, weil Kealey ihren Namen rief.
Eine Frage musste er noch stellen. Er musste es wissen. »Die Mörder Ihrer Schwester …«
Sie schüttelte den Kopf, lächelte aber noch immer. In ihren braunen Augen flackerte ein seltsames Licht. »Man hat sie nie gefasst, aber ich weiß, wer es war.« Jetzt schien sie sich wieder völlig unter Kontrolle zu haben. »Die CIA, trotz all ihrer Fehler, lässt ihre Leute nicht hängen. Die für die Tat verantwortlichen Männer waren zu jener Zeit bloße Lakaien. Jetzt gehören sie zu den mächtigsten Leuten im Drogengeschäft, doch das hat nichts zu bedeuten. Nicht auf lange Sicht.«
»Sie können sich nicht für immer verstecken. Wollten Sie das sagen?«
Er bereute seine Worte sofort. Irgendwie klangen sie etwas herablassend, und das passte überhaupt nicht zu ihm.
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