Der Algorithmus der Liebe: Roman (German Edition)
finster und entzog sich ihr.
»Sie wissen doch, was ich meine.«
»Nein. Sie wissen, was ich meine«, entgegnete Sam.
L iebesbrief
Liebe Meredith,
So hat damals alles angefangen, weißt du noch? Es ging darum, einen Ort zu finden, an den man seine Briefe schicken kann. Ich glaube, jeder hat diesen zutiefst menschlichen Impuls: dem Menschen, den man liebt, schreiben zu wollen, nachdem er gestorben ist. Du magst tot sein, aber deshalb liebe ich dich keinen Deut weniger als vor einem Monat, als du noch gelebt hast. Damals, bevor ich die Software erfunden und wir unser Unternehmen gegründet haben, als tot sein noch hieß, dass man nicht mehr miteinander reden konnte, als tot sein noch hieß, dass man nie mehr das Gesicht des anderen sehen würde, hattest du diesen Impuls, deine Gedanken aufzuschreiben und einen Brief zu schicken.
Vielleicht liegt das an unserer Vorstellung, dass die Toten irgendwohin gehen, an einen konkreten Ort. In den Himmel oder in die Unterwelt oder in ein Land der Toten oder ins Jenseits oder auf eine Wolke voller Engel oder in einen Wartesaal – immer ist es ein Ort. Und an Orte kann man Briefe schicken. Vielleicht ist es aber auch umgekehrt. Vielleicht stand ganz am Anfang, vor allem anderen, der Wunsch, Briefe an die Verstorbenen zu schreiben, weshalb sich die Menschen einen Ort ausdenken mussten, an dem diese Toten sich aufhalten. Und dann mussten sie die Sprache erfinden.
Meistens, fast immer, bereue ich, was wir getan haben. Aber sieh dir die vielen menschlichen Erfindungen an, die vor uns kamen: Symbole, die für Dinge stehen, Wörter, Laute, um sie auszusprechen, eine Schrift, um sie niederzuschreiben, Material, auf das man sie schreiben kann, ein Schreibgerät, mit dem man es tut, Transportwege von einer Person zur anderen, die Möglichkeit, Briefe zu lesen und darauf zu antworten. Auf Steintafeln, auf Pergament, auf Papier, mithilfe von Elektronen, transportiert von Pferden, Autos, Flugzeugen, der Luft, den Wolken. Menschlicher Fortschritt hat so oft mit Kommunikation zu tun, mit Verbindung, mit der Überbrückung jener unüberbrückbaren Kluft zwischen zwei menschlichen Herzen, die wir so dringend überwinden wollen, weil wir das Gefühl haben, dass sie uns sonst umbringt. Früher war es bisweilen sogar unvorstellbar, dass der eigene Nachbar einen versteht und man selbst ihn, und jetzt verständigt man sich mit Menschen auf der ganzen Welt. Vielleicht war die Kommunikation mit Toten nur eine Frage der Zeit, der Evolution. Vielleicht war sie unvermeidbar. Sie wurde aus Liebe geboren. Und vielleicht musste alles, was danach kam, irgendjemandem passieren. Ich bedaure nur, dass ausgerechnet wir das waren.
In der gesamten Menschheitsgeschichte, Merde, seit der ersten Person, die einen geliebten Menschen verloren hat, bis heute, gibt es niemanden, den ich so sehr lieben könnte wie dich.
In Liebe,
Sam
H ighschool-Ball
Kelly Montrose ging mit David Elliot auf ihren Highschool-Ball, aber zuerst kamen die beiden im Salon vorbei, weil Kelly wollte, dass ihr Vater David kennenlernte. Und weil sie ihm ihr Kleid zeigen wollte. Edith hatte es extra für sie genäht, damit sie ganz sicher sein konnte, dass kein a nderes Mädchen das gleiche trug. Dash filmte wie ein Verrückter mit der Videokamera und gab dabei laut Anweisungen, wie der zweitklassige Hollywood-Regisseur, mit dem er seit Kurzem zusammen war. Sam stand daneben und versuchte krampfhaft, nicht zu weinen. Celia hatte sich von Anfang an hartnäckig geweigert, per Video-Chat mit ihrem verstorbenen Mann zu sprechen, aber an diesem Abend konnte sie nicht widerstehen. Sie wünschte sich, mit Tränen in den Augen neben ihm zu stehen und den Kopf auf seine Schulter zu legen, während ihr kleines Mädchen, das plötzlich wie eine erwachsene Frau aussah, zu ihrem ersten großen Ball ging. Sie musste mit Averys Schulter vorliebnehmen, aber wenigstens konnte sie ihrem Mann ins Gesicht blicken. Allerdings hatte Benjamin Montrose Schwierigkeiten, seiner Tochter und seiner Frau zu entsprechen. Kelly hatte noch nie einen Freund gehabt, also gab es keine Reaktion darauf in seinem elektronischen Archiv. Auf den Fotos in diesem Archiv sah sie tatsächlich noch aus wie ein kleines Mädchen. Er schummelte sich ganz passabel mit vager Zustimmung und vorgetäuschter Begeisterung durch, aber weder Kelly noch ihre Mutter waren damit so recht zufrieden. Sam wiederum ertappte sich dabei, wie er gerührt mit den Tränen kämpfte, stolz lächelte und den
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