Der Algorithmus der Liebe: Roman (German Edition)
tatsächlich mit der Entfernung wächst und längst nicht so groß war, wenn er anwesend war. Vielleicht wollte sie ihn aber auch nackt an der Wohnungstür empfangen. Es gab nur eine Möglichkeit, es herauszufinden, und die bestand nicht darin, die SMS fünfunddreißig Mal zu lesen. Sam tat es trotzdem.
Meredith machte die Tür in Jogginghose, Sweatshirt, Schal, Mütze, Fäustlingen und mehreren Paar Socken auf. So viel zum Thema nackt. Als sie ihn umarmte, spürte er, wie seine Lungenflügel zu ihm zurückkehrten. Er hielt sie einen Augenblick fest und genoss ihre Nähe, bevor er in ihre Haare flüsterte: »Es ist August. Draußen hat es fünfundzwanzig Grad. Warum bist du angezogen wie im Januar?«
»Weil mir so kalt ist«, erklärte sie. »Ich kann einfach nicht aufhören zu zittern.«
»Bist du krank?«
Sie schüttelte den Kopf, ohne ihn anzusehen. »Tut mir leid, dass ich vergessen habe, dich abzuholen .«
»Schon okay.« Er wa rtete verwirrt ihre Erklärung ab.
»Ich glaube, Abwesenheit treibt einen tatsächlich in den Wahnsinn.«
»Ich bin do ch wieder da«, sagte er heiter.
»Ich spreche ja auch nicht von dir«, entgegnete sie. »Meine Großmutter ist gestorben.«
Man hatte sie erst Tage später gefunden, was vielleicht das Schlimmste an der ganzen Sache war. Merediths Großmutter Olivia, genannt Livvie, verbrachte die Wintermonate in Florida, wie jeder vernünftige Rentner aus kälteren Gefilden. Aber im Sommer war sie in Seattle, um in der Nähe von Tochter, Enkelin und lebenslangen Freunden, Erinnerungen und Lieblingsplätzen zu sein. Sie besaß eine Wohnung in einem Hochhaus in First Hill, in der sie seit fünfzig Jahren wohnte und in der schon Merediths Mutter und Onkel aufgewachsen waren. Meredith selbst hatte dort die schönsten Zeiten ihrer Kindheit erlebt. Ihre Eltern lebten nämlich auf Orcas Island, wo sie ein ungestörtes Künstlerdasein führten, weshalb Meredith im Töpferstudio und im Bauerngarten, an windgepeitschten Stränden und in uralten Tannenwäldern aufgewachsen war. Aber ihr Herz hing an der altmodischen Penthousewohnung ihrer Großmutter – für Meredith der ideale Zufluchtsort. Sobald sie alt genug gewesen war, war sie nach Seattle gezogen, wo sie und ihre Großmutter seither fast Haus an Haus wohnten.
Mindestens einmal pro Woche aß Meredith bei ihr zu Abend, aber oft kam sie auch einfach auf dem Weg zur Arbeit zum Frühstück vorbei oder traf sich mit Livvie in der Innenstadt zum Mittagessen. Oder sie schaute auf einen Sprung bei ihr rein, um sich von ihr einen Rock säumen zu lassen oder ihr einen halben Kuchen zu bringen, den sie gebacken hatte, oder ein bisschen Suppe oder ein paar Kirschen oder eine Schachtel Cookies, die sie der Pfadfinder-Tochter irgendeiner Freundin oder Arbeitskollegin abgekauft hatte. Und zwar nicht, weil Livvie alt oder gebrechlich gewesen wäre, oder zu erschöpft, um allein zurechtzukommen, sondern weil die beiden einfach gerne zusammen waren. Aber es war auch nichts Ungewöhnliches, wenn Meredith mal ein paar Tage nichts von ihrer Großmutter hörte. Sie telefonierten nicht jeden Tag. Livvie hatte viele Freunde, ein aktives Sozialleben und war trotz einer halben Schachtel Zigaretten pro Tag kerngesund. Ihr Argument lautete: »Ich rauche jetzt seit sechzig Jahren. Wenn es mich bis jetzt nicht umgebracht hat, ist es vielleicht sogar gut für mich.«
Aber es war nicht gut für sie. Als Meredith am Mittwoch bei ihr zu Abend gegessen hatte, war noch alles in Ordnung gewesen, und sie hatten ausgemacht, am Wochenende zusammen zu brunchen. Am Freitagabend hatte Meredith ihrer Großmutter auf den Anrufbeantworter gesprochen, dass sie die Hälfte der riesigen Kiste Tomaten vorbeibringen wollte, die ihr Nachbar ihr aus seinem Garten gebracht hatte. Erst am Samstagnachmittag war ihr aufgefallen, dass Livvie sich noch gar nicht zurückgemeldet hatte und dass sie auch noch nichts Konkretes für den Brunch am Sonntag ausgemacht hatten. Das war nicht gänzlich ungewöhnlich, aber doch ein bisschen beunruhigend. Livvie war zwar viel unterwegs, besaß aber ein Handy. Meredith rief also erneut bei ihr an und hinterließ eine weitere Nachricht, und dann noch eine. Inzwischen war es später Samstagabend. Am Sonntagmorgen schloss sie schließlich mit ihrem Zweitschlüssel die Wohnung ihrer Großmutter auf.
Livvie saß aufrecht auf dem Sofa, die Lesebrille auf der Nase, ein Buch auf dem Schoß. Das Wasser auf dem Wohnzimmertisch war unberührt. Aber das war auch
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