Der Algorithmus der Liebe: Roman (German Edition)
das Einzige an der Szene, was Meredith unberührt ließ. Nach einem einzigen Blick auf ihre Großmutter wusste Meredith Bescheid, nein, schon davor, als sie die Wohnungstür aufmachte und kein Baseball im Radio hörte, keinen Kaffee und keine Sonntagsbagels roch, die Jalousien und Fenster geschlossen vorfand. Tief im Herzen hatte sie es vielleicht sogar noch früher gewusst, weil ihre Großmutter sonst immer zurückrief und Meredith über alles liebte und grundsätzlich Wort hielt, besonders wenn es ums Brunchen ging.
Zur Sicherheit rief sie trotzdem den Rettungswagen. Akuter Herzinfarkt, vermutete der Notarzt. So akut, dass sie nicht gespürt hatte, wie er sich anbahnte. So akut, dass sie weder die Brille abgenommen hatte, noch vom Sofa getaumelt und vor Schmerzen zusammengebrochen war oder um Hilfe gerufen hatte. Nicht einmal Durst schien sie bekommen zu haben, schließlich war das Wasserglas neben ihr noch voll. Es sei so schnell gegangen, dass sie keine Schmerzen gespürt habe, versicherte er Meredith. Sie sei noch nicht lange tot und Meredith hätte sowieso nichts tun können, beteuerte er.
Bei der Beerdigung hielt Sam Merediths Hand und lernte ihre Eltern und Verwandten und sämtliche Freunde von Livvie kennen. Meredith stellte sie alle gegenseitig mit überlegten, wohlwollenden Worten vor, die sie alle in einem guten Licht darstellten. »Das ist Naomi. Sie und ihr Mann sind in den Fünfzigern immer mit meinen Großeltern tanzen gegangen. Meine Großmutter und Naomi gehen oft zusammen ins Theater. Naomi tanzt für ihr Leben gerne.« Und: »Das sind Ralph und Ella Mae, mit denen meine Großmutter am liebsten ins Restaurant und anschließend ins Kino geht.« Und: »Das ist Penny. Sie wohnt unten im selben Haus und ist die beste Freundin meiner Großmutter. Außerdem hat sie gerade ihren Mann verloren. Also könnte es gut sein, dass sich Oma genau in diesem Moment mit Albert unterhält.« Und dann umarmten sich Meredith und Penny und weinten und wiegten sich hin und her, und Sam vergrub die Hände in den Taschen und wartete verlegen auf eine Gelegenheit, sich nützlich zu machen.
Merediths Eltern schienen sich fast genauso unbehaglich und deplatziert vorzukommen wie er. Julia rieb sich die feuchten Augen mit ihren zu langen Ärmeln, die sie über die geballten Fäuste gezogen hatte, und strich sich pausenlos eingebildete Haarsträhnen hinters Ohr. Sie schien froh zu sein, dass ihre Tochter den traurigen Anlass mit ihrer kommunikativen Art meisterte, aber jedes Mal wenn sie jemandem vorgestellt wurde oder zu lächeln versuchte, brach sie erneut in Tränen aus. Kyle wiederum schätzte mit einem Blick die Lage ab und entschied, dass Meredith stabiler war als Julia, weshalb er seiner Frau nicht von der Seite wich, als seien sie die Figuren auf einer Hochzeitstorte. Das galt für Merediths Eltern allerdings auch, wenn alles in Ordnung war. Kyle und Julia waren Kyle-und-Julia-gegen-den-Rest-der-Welt. Sie wohnten auf einer Nordostpazifischen Insel und fühlten sich dort pudelwohl, besaßen ein verwittertes Töpferstudio, in das es hineinregnete, und einen kleinen Laden im Erdgeschoss ihres Hauses. Sie wohnten im ersten Stock und ernährten sich von den Erzeugnissen ihres Gartens, der ums ganze Haus wucherte. Ihre Tage verbrachten sie damit, zu töpfern, über Kunst zu reden und nachmittags Hand in Hand zu ausgedehnten Strandspaziergängen aufzubrechen und endlose Buchten mit dem Kajak zu erkunden. Seattle, das sie ohne jede Ironie »die große Stadt« nannten, erreichten sie nur nach einer langen Überfahrt mit der Fähre, gefolgt von einer langen Autofahrt. Sie waren weder Kiffer noch Aussteiger, ja nicht einmal Veganer oder Duschverweigerer. Sie stellten wunderschöne Kunstgegenstände her und lebten gut davon. Aber sie kultivierten ihre Zurückgezogenheit, ihre Abschottung – von der Welt, vom echten Leben, sogar von den Menschen, die ihnen nahestanden. Sie hatten wenige Freunde und sprachen nur mit Meredith oder Livvie, wenn diese zuerst anriefen. Natürlich liebten sie ihr einziges Kind über alles, aber ihre Zweisamkeit liebten sie eben auch.
In krassem Gegensatz dazu stand Merediths Cousin.
»Dashiell Bentl ively.« Er streckte Sam die Hand entgegen und bedachte ihn mit einem Grinsen wie aus der Zahnpastawerbung.
»So heißt du aber nicht wirklich, oder?« Sam lächelte vorsichtig, um Dashiell nicht zu verletzen. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass jemand wirklich so hieß.
»Nein,
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