Der Algorithmus der Liebe: Roman (German Edition)
Nummer zwei: Livvie hat zwar mit vielen Menschen per Video-Chat kommuniziert, aber dabei gibt man nun mal nicht wie bei E-Mails einen Namen und eine Adresse an. Sie wusste, mit wem sie jeweils gesprochen hat, aber der Computer nicht. Nummer drei bis vierhundertelf: Künstliche Intelligenz liegt derzeit immer noch in unerreichbarer Ferne, das menschliche Herz ist unergründlich, zwischenmenschliche Beziehungen sind rätselhaft, menschliche Verhaltensweisen und Reaktionen können unbegrenzte Spielarten haben. Ganz zu schweigen von der Komplexität, mit der Menschen komplexe Situationen erfassen.«
»Ich habe schon bei ›Nummer eins‹ abgeschaltet.«
»Dann lass dir einfach gesagt sein , dass es nicht geht.«
»Meine Großmutte r fand Video-Chats toll «, sagte Meredith nachdenklich. »Wir haben ihr vor ein paar Jahren einen Laptop mit Kamera zum Geburtstag geschenkt. Allerdings musste ich meine Eltern erst dazu überreden, weil sie der Meinung waren, ihr alter Laptop würde es noch tun. Ich habe ihnen gesagt, dass er total veraltet sei und keine integrierte Kamera zum Video-Chatten habe. Du kannst dir sicher vorstellen, wie gut dieses Argument bei Kyle und Julia gezogen hat. Also musste ich meine Taktik ändern und habe stattdessen betont, wie schwer der alte Laptop sei und dass sie sich damit die Schulter verrenken könne. Das hat sie überzeugt. Oma war anfangs auch nicht so ganz überzeugt, weil sie der Ansicht war, dass man E-Mails auch im Bademantel schreiben kann, vor der Videokamera aber gut aussehen muss. Ich habe ihr zwar gesagt, dass ich sie schon hundertmal im Pyjama gesehen habe, aber sie hatte Angst, dass die ganze Welt sie so sieht. Andererseits hat sie schnell festgestellt, dass man beim Video-Chatten wunderbar die frisch lackierten Nägel trocknen lassen kann, das geht beim E-Mailen nicht. Oma liebte es, sich die Nägel zu machen. Von da an war sie bekehrt. Wenn sie in Florida war, haben wir uns ständig über Video-Chat unterhalten. Und hier in Seattle auch. Mit der Zeit war es für sie selbstverständlicher, als den Telefonhörer abzunehmen.«
»Eine bemerkenswerte Frau«, sagte Sam.
»Das wollte ich damit aber gar nicht sagen.«
»Was dann?«
»Dass es dort draußen viel mehr Video-Chat-Material von meiner Großmutter gibt als E-Mail-Material.«
»Wo draußen?«
»Das ist dein Job «, antwortete Meredith.
Aber es war nicht Sams Job. Weil er keinen Job mehr hatte. Jedes Mal wenn er sich vornahm, auf Arbeitssuche zu gehen, fiel ihm ein, wie viel produktiver es war, zu Hause zu bleiben. Wenn Meredith morgens zur Arbeit ging, putzte er die Wohnung, ging mit den Hunden spazieren, schlenderte zum Pike Place Market hinunter, um frisches Obst und Gemüse, Käse und Blumen zu kaufen, ging joggen, las Bücher, machte die Wäsche, sah sich Kochsendungen im Fernsehen an und versuchte sich abends an aufwendigen Gerichten, mit denen er Meredith überraschte. Und nebenher bastelte er an der elektronischen Kommunikation mit Verstorbenen herum. Auch mit seiner Freundin flirtete er elektronisch, was zwar weniger aufregend war als persönliches Flirten, weil die Wahrscheinlichkeit, dass sie dabei nackt war, gering war, aber es erhöhte immerhin die Wahrscheinlichkeit, dass sie später nackt sein würde, und das war ja auch etwas.
»Dieses Meeting zieht sich eeeeeeeeewig«, schrieb sie eines Vormittags.
»Dann komm doch einfach nach Hause«, schrieb er zurück. »Ich bin einsam.«
»Weil du zu viel alleine bist. Arbeitslos. Orientierungslos.«
»Ich bin nicht alleine.«
»Wer ist denn noch da?«
»Die Hunde.«
»Nein, i m Ernst. Du bist alleine.«
»K omm nach Hause«, wiederholte er.
»D ann kriege ich aber kein Gehalt mehr.«
»Eine Weile schon noch.«
»Mir ist so langweilig. Mach ein Foto von deinen Kronjuwelen und schick es mir aufs Handy!«
»Und was, wenn ich eines Tages als Präsident kandidieren möchte?«, fragte Sam.
»Ich will nicht an die Ostküste ziehen«, schrieb Meredith.
»Dann eben als Gouverneur ?«
»Pikante Fotos von einem Gouverneur interessieren kein Schwein.«
Kurz darauf schrieb sie schon wieder eine SMS : »Hilfe, hier herrscht totaler Aufruhr! Du musst nach der Arbeit mit zur Happy Hour kommen und meinen neuen Chef kennenlernen.«
»Warum sollte ich deinen neuen Chef kennenlernen wollen?«, fragte Sam.
»Glaub mir. Das musst du gesehen haben, um es zu glauben.«
Sie verabredeten sich in der Innenstadt, im Library Bistro, ihrer Lieblingsbar für Drinks nach der
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