Der Algorithmus der Liebe: Roman (German Edition)
Überfluss konnte sie sie nicht einmal in Florida besuchen. Sams Ansicht nach waren sie in einer Sackgasse angelangt. Die Vergangenheit hatte die Gegenwart eingeholt, und sie hatten die Grenzen dessen erreicht, was man mit Erinnerungen, Gewohnheiten und Altvertrautem überwinden kann. Livvie kam nicht mehr hinterher, weil sie nicht ahnen konnte, dass sich die Beziehung zu ihrer Enkelin seit ihrem Tod ver ändert hatte.
»Ich brauche einen glaubwürdigen Grund dafür, da ss ich sie nicht besuchen kann. Was schreibe ich?«, fragte Meredith.
»Nichts. Lass uns Schluss machen.«
»Wie meinst du das?«
»Lass uns aufhören. Es war ein interessantes Experiment, aber jetzt ist es genug.«
»Du meinst, ich soll die E-Mail gar nicht beantworten?«
»Genau. Lass es einfach.«
»Aber ich kann sie doch nicht einfach ignorieren! Sie wird sich fragen, was los ist. Bestimmt ist sie total sauer.«
»Nein, ist sie nicht«, antwortete Sam so schonend er konnte. »Sie ist tot.«
»Nein, sie hat mir E-Mails geschickt.«
»Nicht sie. Die Software.«
»Bist du dir sicher?«
»Absolut.«
»Ich nicht.«
»Merde …«
»Irgendjemand schreibt mir E-Mails. Und macht sich Sorgen, dass ich zu viel arbeite. Und will wissen, wie mein Freund aussieht. Und wünscht sich, dass ich z u Besuch komme. Ich will diese Person nicht enttäuschen. Ich will Livvie nicht enttäuschen. Ich will sie nicht hängen lassen.«
Als Sam noch ein Kind war, hatte sein Vater auf die Schnelle ein Programm geschrieben, mit dessen Hilfe er auf dem Computer rechnen üben konnte. Wenn er eine Aufgabe richtig löste, sagte das Programm »Gut gemacht, Sam« oder »Du kleiner Schlaumeier« oder Ähnliches. Wenn seine Lösung hingegen falsch war, sagte es »Knapp daneben« oder »Versuch’s noch mal«. Es war ein ganz einfaches Programm, aber es funktionierte trotzdem nicht, weil sich Sam schon nach einer Stunde weigerte, es jemals wieder zu benutzen. Er hatte nur falsche Lösungen gehabt und war überzeugt, dass ihn der Computer für dumm hielt. Keine noch so ausführliche Erklärung seines Vaters konnte ihn vom Gegenteil überzeugen. Natürlich wusste Sam, dass der Computer nicht lebte, dass er keine Gefühle hatte, keine Meinung und auch kein eigenes Wissen, aber das nützte nichts. Er ließ sich trotzdem nicht umstimmen. Also schrieb sein Vater das Programm noch einmal neu und ließ es kinderleichte Aufgaben stellen, auf die er falsche Antworten einprogrammierte.
»Was ist 2 plus 3?«, fragte der Computer.
»5«, tippte Sam.
»Fa lsch, die richtige Lösung lautet 4«, antwortete der Computer. »Wie wäre es mit 8 minus 2?«
»6«, tippte Sam.
»Falsch«, antwo rtete der Computer prompt. »Die richtige Lösung lautet 7.«
Auf diese Weise hatte Sam das Gefühl, dem Computer überlegen zu sein, und gewann so das nötige Selbstvertrauen, um sich mehr mit Mathe zu beschäftigen. Allerdings war das sein allererster Computer gewesen, mit sieben Jahren. Meredith war erwachsen und hätte es besser wissen müssen. Aber nicht einmal Sam war sich ganz sicher. Natürlich war es nicht ihre Großmutter, die ihr schrieb, aber vielleicht wartete ja tatsächlich irgendetwas – irgendjemand? – auf ihre Antwort.
Meredith war jedenfalls überzeugt, Livvies Einladung nach Florida nicht einfach ignorieren zu können. Andererseits wollte sie ihrer Großmutter auf keinen Fall mitteilen, dass sie tot war. Sie glaubte, dass es sie – wer auch immer das war – aus der Fassung bringen könnte. Sam glaubte, dass es das Programm zum Absturz bringen könnte. Schließlich antwortete Meredith Folgendes:
Liebe Oma,
Sam ist nicht hässlich, sondern wunderschön. Er hat dunkle, wellige Haare, die er offenbar von seinem Vater geerbt hat. Außerdem hat er tiefgründige grüne Augen, die alles genau beobachten und immer leicht verträumt aussehen und rot werden, wenn er traurig oder müde ist. Er trägt Jeans und T-Shirt und eine Lesebrille. Und er lächelt die ganze Zeit. Er rasiert sich so gut wie nie. Wenn er aufwacht, stehen seine Haare in alle Richtungen, und dann läuft er den ganzen Morgen rum und streicht sie glatt, bis er duschen geht.
Ich würde Dich so gerne besuchen! Du kannst Dir gar nicht vorstellen, wie ich mir das wünschen würde. Aber im Moment geht es einfach nicht. Es tut mir wirklich leid.
Ich denke jeden Tag an Dich. Ich vermisse Dich so sehr und trage Dich immer in meinem Herzen.
Sam war neugierig, wie das Programm wohl mit dieser E-Mail umgehen würde, aber
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