Der Algorithmus der Liebe: Roman (German Edition)
Programm erstellte, leblos waren, testen konnte man sie nur in der echten, rauen Wirklichkeit.
L ehrgeld
Am Morgen nachdem sie ihrem Salon Styx den letzten Feinschliff verpasst hatten, am Morgen nachdem sie tatsächlich eine Diskokugel aufgehängt, kitschige Musik gehört, billigen Sekt getrunken und in ihren neuen Geschäftsräumen getanzt hatten (weil Meredith darauf bestand, dass sie mit Leben, Licht und einem positiven Blick in die Zukunft eingeweiht werden mussten, bevor sie sich mit Tragödien und Vergangenem füllten), am Morgen nachdem sie die Nacht in Schlafsäcken auf dem Boden des Salons verbracht hatten, ohne allerdings zu schlafen – zu groß waren Aufregung und Angst –, beseitigten Meredith und Sam die Reste der Party, während sich Dashiell Bentlively auf die Suche nach einem Ohr machte, in das er flüstern konnte. Zwei Stunden später kehrte er mit Petits Fours vom französischen Stand auf dem Pike Place Market und selbstzufriedener Miene wieder in den Salon zurück. Am frühen Nachmittag ging bimmelnd die Tür auf (um die Geschäftsräume gemütlich, freundlich und weniger morbid wirken zu lassen, hatte Meredith wie in einem Antiquitätenladen eine Glocke über der Tür aufgehängt).
Eduardo Antigua hatte den Blick auf seine teuren Lederschuhe gesenkt und strich sich eingebildete Falten aus dem Designeranzug. Er war sichtlich nervös, aber nicht halb so nervös wie Sam. Meredith kam ihm entgegen, um ihn zu begrüßen.
»Äh … hallo«, sagte er.
»Hallo«, sagte sie freundlich und schüttelte ihm die Hand.
»Äh … ich weiß nicht genau, ob ich hier richtig bin.«
»Ganz bestimmt sogar .«
»Also … ich habe gehört … das heißt … ich … Ein Freund von mir hat gesagt, dass Sie die Möglichkeit bieten …«
»Das stimmt. Kommen Sie doch bitte rein. Darf ich Ihnen einen Tee anbieten? Oder Kaffee?«
»Mein … mein Bruder ist letzte Woche gestorben.« Eduardo Antiguas Stimme war kaum noch ein Flüstern und erstarb dann vollends. Sam spürte, wie ihm das Herz in die Hose rutschte. Erst jetzt ging ihm auf, wie aufwühlend diese Arbeit jeden Tag aufs Neue sein würde. Bisher hatte er nur an die Technik gedacht, aber die technische Seite des Ganzen würde sich bald einspielen, wie ihm jetzt klar wurde, während er die meiste Zeit damit verbringen würde, den Horrorgeschichten der Kunden zu lauschen und mit ihren gebrochenen Herzen und traurigen Augen konfrontiert zu werden. Natürlich war ihm bewusst gewesen, was die Kunden erlebt hatten, aber er selbst war mit dem Tod auf ganz andere Weise vertraut – und zwar aufs Engste. Als er ins erinnerungsfähige Alter gekommen war, war der Tod für ihn längst wie ein Familienmitglied gewesen, wie ein Verwandter, den sein Vater widerwillig bei sich aufgenommen hatte, ein unordentlicher und unfreundlicher Verwandter, dessen ständige Anwesenheit nicht verhandelbar war und daher irgendwann zur Normalität wurde. Sams Vater sah das vermutlich ganz anders, aber was Sam betraf, hätte sich der Tod seiner Mutter genauso gut vor seiner Geburt ereignen können. An die Stelle seiner Mutter war die Tatsache getreten, dass er sie verloren hatte, und diese Tatsache war zum prägenden Faktor f ür ihn geworden, zur konstant en Präsenz, zum geifernden Monster, das zwischen den dunkleren Winkeln seiner Psyche und dem heimischen Frühstückstisch hin und her pendelte. Für ihn war ihr Tod ein allgegenwärtiges, aber lange zurückliegendes Ereignis. Livvie bildete die einzige Erfahrung, die er mit einer kürzlich verstorbenen Person hatte, dabei hatte er sie noch nicht einmal persönlich gekannt. Allerdings war es ihm bei Livvie gelungen, eine Lösung zu finden.
Für Eduardo war der Tod eindeutig kein gebrechlicher, unwillkommener Hausgast, sondern ein Ziegelstein, den jemand in seinem behaglichen, sicheren Zuhause durchs Fenster geworfen hatte, ein Ziegelstein, um den eine Nachricht gewickelt war, die jede Hoffnung auf ein friedvolles Leben für immer zunichtemachte. Nachdem Eduardo einen flüchtigen Blick auf das Auswahlmen ü geworfen hatte , das Meredith ihm reichte, entschied er sich für das volle Programm. Er könne entweder alles, was er brauche, mit nach Hause nehmen oder vor Ort loslegen, erklärte sie ihm, woraufhin er zusammenzuckte und mit flatternden Augen sagte: »Ach, ich glaube, ich mache es lieber hier.«
Weil Eduardo bisher der einzige Kunde war und Sam ohnehin seit Ewigkeiten nicht mehr geschlafen hatte, lasen sie seine Daten über Nacht
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