Der Algorithmus der Liebe: Roman (German Edition)
reagieren würden. Darin fanden sich zwar oft Reaktionen auf den Tod anderer Menschen, aber die erwiesen sich als unzureichende Indikatoren für ihre Reaktion auf den eigenen Tod. Hinzu kam, dass die Projektionen es einfach nicht glauben wollten. Sie waren schließlich immer noch da, konnten sich sehen und hören. Sie konnten eine Hand heben und im kleineren Fenster ihres Video-Chats beobachten, wie sie sich bewegte. Wenn sie also eine E-Mail lasen, in der sie über ihren Tod informiert wurden, schrieben sie zurück: »He, ich bin nicht tot!« oder: »Nö, mach dir keine Sorgen, mir geht’s gut.« VAs der ersten Generation hatten noch nie von RePrise gehört, weshalb man es ihnen auch nicht erkl ären konnte. Oft waren sie Opfer eines Unfalls, eines unerwarteten Herzinfarkts, vielleicht sogar eines Stromschlags oder eines ähnlichen Schicksals geworden, und da ihrem Tod keine lange Krankheit vorausgegangen war, hatten sie keinerlei Grund, an ihn zu glauben, keinerlei Basis, nichts. Manchmal reagierten sie sogar sauer und schrieben wütende E-Mails darüber, dass sie sich extra das Rauchen abgewöhnt, das Fallschirmspringen aufgegeben oder den Konsum von Wein, Fleisch oder Croissants eingestellt hätten, nur um jetzt zu erfahren, dass alles umsonst gewesen sei.
Nachdem weder Kurzfilm noch Dialogvorlagen, weder Abfragen noch schriftliche Erklärung etwas nützten und auch Sams eindringliche Warnungen und Bitten kein Gehör fanden, probierte er es als Nächstes mit der Orpheus-Methode: Die Kunden durften ihre VAs nur unter einer Bedingung aus der Unterwelt holen: dass sie sich nicht nach ihnen umdrehten, ihnen also nicht sagten, dass sie tot waren. Er erklärte es einfach zum strikten Verbot und baute einen Not-Ausschalter ein: Wenn man seiner Projektion von ihrem Tod erzählte, setzte automatisch der Löschvorgang ein. Dann fuhr Sam alles herunter, bevor der Kunde auf Wunsch noch einmal von vorn anfangen durfte. Es ging ihm nicht darum, die Leute zu bevormunden, und er wollte auch nicht gefühllos erscheinen, aber da seine Bitten nichts genützt hatten, musste er eben einen anderen Weg einschlagen. Die Orpheus-Methode funktionierte allerdings auch nicht (bei Orpheus selbst hatte es ja damals auch nicht geklappt). Die Kunden saßen nur stumm und eingeschüchtert da und sagten vor lauter Angst, dass es ihnen versehentlich herausrutschte, überhaupt nichts mehr. Denn egal, was sie sonst hätten sagen können, die Botschaft, die ihnen auf der Zunge lag, lautete immer: Sieh dir dieses riesige Loch in mir an, das du hinterlassen hast.
Sam beschloss also, den ersten Löschvorgang in die Anmeldegebühr zu integrieren. Er schaffte den Not-Ausschalter wieder ab und überließ den Kunden die Entscheidung, mit dem Ergebnis, dass sie sich von nun an einfach entschuldigten, wenn sie ihren Projektionen von ihrem Tod erzählt hatten, und ständig neue Löschvorgänge von ihm forderten. Das Löschen wurde zur Allzwecklösung. Die Kunden sagten etwas Falsches, ärgerten sich, waren frustriert, verlangten einen Löschvorgang und fingen wieder von vorn an, enttäuscht, aber klüger. Und beim nächsten Mal tappten sie dann in eine andere Falle, wie bei einem Videospiel. Projektionen wie Hinterbliebene, verstorbene Angehörige wie Kunden, Tote wie Lebende starben und bekamen ein neues Leben, ein ewiger Kreislauf.
P enny
Sams L ösung für sämtliche Probleme hatte immer schon gelautet: noch mehr arbeiten. Seiner Ansicht nach kam man nur voran , wenn man den Kopf über den Schreibtisch beugte, die Füße fest in den Boden stemmte und sich auf den Hosenboden setzte, genügsam und ausdauernd. Diese Auffassung von Arbeit war für einen Softwareentwickler natürlich ideal. Man saß einfach da und codierte und codierte um, wartete ab, bis sich ein Programm aufgebaut hatte, sah sich das Ergebnis an und codierte dann noch ein wenig. Wartezeiten überbrückte man, indem man ein zweites Computerfenster öffnete und irgendetwas im Internet las. Sam verbrachte viel Zeit im Sitzen.
»Irgendwann verwächst du noch mit diesem Stuhl«, warnte ihn Meredith.
»Wie gut, dass du uns ergonomische Stühle spendiert hast.«
»Du brauchst Bewegung, frische Luft.«
»Ich geh doch mit dir und den Hunden spazieren. Oft. Manchmal.«
»Du brauchst Kontakt zu Menschen.«
» Ich mache nichts anderes, als mit Menschen in Kontakt zu treten.«
»Ich meine aber lebende Menschen.«
»Ich habe doch dich. Und Dash. Und unsere Kunden.«
»Eigentlich könnten wir
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